Die Gesichtslosen
Unglück, und nur wenn ich allein bin, weine ich.»
Alle anderen schwiegen.
«Odarley sagt immer, ich hätte zu viel Phantasie. Manchmal weiß sie nicht genau, ob die Geschichten, die ich ihr erzähle, wahr oder erfunden sind. Wenn ich manchmal aus mir heraustrete, beobachte ich das arme Mädchen, das ich bin, und habe großes Mitleid mit beiden, mit Mutter und mit mir. Ist das nicht komisch?»
Sylv Po und Kabria hatten Fofo interessiert gelauscht. Ging anderen Mädchen da draußen ähnliches durch den Kopf?
«Stehst du jetzt auch manchmal noch neben dir?» fragte Kabria nach einer kurzen Pause. Fofo lächelte breit und antwortete: «Nicht seitdem ich bei Auntie Dina wohne.»
KAPITEL 19
Kabria startete Creamy. Obea, Essie und Ottu hatten auf dem Rücksitz Platz genommen. Sie machten sich auf den Weg von der Schule nach Hause.
Kabria war unruhig. Ihr Instinkt sagte ihr, daß es nichts mit dem Besuch bei Maa Tsuru zu tun hatte. Auch nicht mit der Stippvisite in der Werkstatt, wo sie Onko zwar nicht angetroffen, von seinem Lehrling aber erfahren hatten, daß das Geschäft kurz vor der Pleite stand. «Fast alle Auszubildenden sind schon gegangen!» hatte der älteste unter ihnen verzweifelt erklärt. «Wir haben keine Aufträge mehr. Das kommt nur von dem Gerede!»
«Welches Gerede?» hatte Sylv Po gefragt.
«Naja… das Gerücht… über dieses Mädchen und der verfluchten Mutter… und ihre Schwester…» Dabei hatte er auf Fofo gezeigt. «Was er angeblich mit ihr gemacht hat.»
Kabria kam der Handabdruck auf Fofos Wange in den Sinn. Der Bericht des Pathologen sprach von ähnlichen Abdrücken auf Baby Ts Wange. Doch da war noch etwas, was sie im Augenblick nicht festmachen konnte.
Essie rief einer Freundin etwas zu und winkte ihr. Das Mädchen nahm ihre hellblaue Lunchbox von der rechten Hand in die linke und winkte zurück. Die Farbe «hellblau» löste bei Kabria einen Gedankenblitz aus. Sie löste die Handbremse und legte den Leerlauf ein. Sie ließ den Motor laufen und dachte angestrengt nach. Der Schuldige erhob langsam sein Haupt. Ja, sie hatte heute morgen zwei Frühstücksbrote in zwei separate Lunchboxen eingepackt. Obea fühlte sich inzwischen reif und selbständig genug, um sich ihr Essen in der Kantine zu kaufen. Also packte Kabria immer je eine für Ottu und Essie. Beide waren an diesem Morgen ausgestiegen und hatten – soweit sie sich erinnern konnte – ihre Lunchbox in der Hand. Warum saß Ottu jetzt mit leeren Händen da? Sie drehte sich um: «Ottu, wo ist eigentlich deine Lunchbox?»
«Die ist noch im Klassenzimmer», antwortete Ottu gelassen.
Aus seiner Sicht schien die Welt völlig in Ordnung.
Aus Kabrias Sicht war sie das ganz und gar nicht. «Du hast deine Lunchbox im Klassenzimmer vergessen und sitzt einfach hier im Auto?»
«Ja.»
«Und?»
«Ich habe mich in der Toilette versteckt und sie dann vergessen.»
Kabria brach jede weitere Befragung ab, um ihren Blutdruck zu schonen und sann über eine praktischere und vernünftige Lösung nach. «Obea, bitte hol mit Essie Ottus Lunchbox, ja?»
«Nein», heulte Essie.
Was folgte, war die Ruhe nach dem Sturm, der gerade in Kabrias Kopf stattgefunden hatte. «Und warum nicht?» fragte sie kühl.
«Er hat mich beleidigt.»
Creamys Motor lief immer noch. Kabria konnte es nicht riskieren, ihn abzuschalten und neu zu starten. Gleichzeitig brauchte niemand sie daran zu erinnern, daß Öl nicht gerade zu Ghanas Rohstoffen gehörte. Aber Ottus Lunchbox war ein ökonomischer Faktor in ihrer wirtschaftlichen Beziehung zu Adade, der ihr in diesen Angelegenheiten so viel Unterstützung und Verständnis entgegen brachte, wie die Weltbank und der IWF den Entwicklungsländern – nämlich keine. Sie stieg zusammen mit Obea aus und warnte Essie und Ottu davor, das Auto zu verlassen, brütende Hitze hin oder her.
Sie fanden die Lunchbox. Der Griff war abgebrochen.
Zurück am Auto mußte Kabria erkennen, daß Essie ihre Anweisung ignoriert hatte. Sie lehnte lässig an Creamy und knabberte genüßlich geröstete Erdnüsse.
«Die hat sie auf Pump von der Erdnußverkäuferin dort. Sie hat gesagt, du würdest sie bezahlen, wenn du zurückkommst, Mum», verriet Ottu in der Hoffnung, er könnte damit wieder Boden gutmachen und die zu erwartende Strafe abmildern.
Kabria war mit ihren Nerven am Ende, sie wollte nur noch so schnell wie möglich weg.
«Wieviel?» fragte sie die Erdnußverkäuferin.
«Zweihundert Cedi.»
Kabria zahlte und
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