Die Gespenster von Berlin
kriecht, ersticht des Ritters Lanze das hungrige Monstrum. Held geboren, Jungfrau zart, Burgfrieden hergestellt, christliches Krankenhaus eröffnet. Wilde Spinnerei? Die Deutung von Bethanien als Phallusprojekt des Königs ist bereits von Hoffmann-Axthelm (1989) mehr als angedeutet worden:
»Ist es zu überzogen, in den beiden Lanzetttürmen der Bethanienfassade auch die Lanze des heiligen Georg zu sehen? – nicht als öffentlich vertretener Symbolismus, sondern als privater Text eines in öffentlichen Funktionen sich ausdrückenden Borderline-Charakters.«
Summa Summarum
Bleibt hier noch die Frage, ob bei der nächtlichen Gespensterjagd mit Mareike Dittmer ein Gespenst ins Netz ging.Die Nacht endete unspektakulär nach einem letzten ereignislosen Rundgang. Die Stipendiaten schliefen schon lange, der Nachtwächter las immer noch die Zeitung, der Mariannenplatz war ganz still, als wir in den Morgenstunden das Haus verließen. Erst Wochen später kamen wir wieder zusammen, um die Tonaufnahmen zu prüfen. Es war hochnotpeinlich, sich das anzuhören. Wie heißt du? Wie geht es dir? Weißt du, wer wir sind? Wo lebst du? Plätscher, plätscher, plätscher. Dann noch mal das Gleiche, mit Radiorauschen.
Möchtest du Mareike Dittmer etwas Bestimmtes mitteilen?
Immer wieder spielten wir das Band ab, aber in unseren Gehörgängen fügten sich keine Geräusche zu Worten, Sätzen oder gar Sinn. Da war nichts. Nur an der Stelle »Möchtest du Mareike Dittmer etwas Bestimmtes mitteilen?« war uns, als hörten wir einen ganz kurzen ersticken Laut. Als wäre da jemand geknebelt. Aber immer noch kein Wort, nein. Die Gespenster, von denen es in Bethanien mehr als genug gab, hatten sich zu unserem Tonexperiment nicht einfinden wollen. Aber dass es in Bethanien spukte, war nicht zu bezweifeln!
Denn kurz vor Beendigung dieser Niederschrift traf der Bericht einer weiteren ehemaligen Stipendiatin ein.
Die ungarische Künstlerin Hajnal Nemeth, die 2002 in Bethanien residierte und mittlerweile in Berlin lebt, erzählte mir am Telefon von den Gespenstergeschichten, die in ihrem Stipendiatenjahrgang kursierten. Sie handelten davon, dass einige Künstler nachts plötzlich geweckt wurden und unheimlichen Besuch im Zimmer hatten.
»Sie wurde wach geschüttelt. Eine verschwommene Gestalt von einem Mann stand im Raum und sprach nervös und hektisch auf sie ein, als wollte er ihr etwas Dringendes sagen. Aber die Künstlerin verstand kein Wort, die Gestalt sprach ja nur Deutsch, und die Frau konnte das gar nicht verstehen. Die Gestalt war wie ein Schatten, und doch sehr deutlich sichtbar. Dieser Mann war aufgeregt, als bräuchte er Hilfe. Und da gab es noch eine andere Gestalt, die manchmal nachts auftauchte, in einem anderen Zimmer, und die hatte sich aufgehängt. Die beiden Gestalten standen miteinander in Verbindung. Da war irgendwas passiert, was die Gestalten uns unbedingt mitteilen wollten. Aber die Künstler verstanden sie nicht, weil die Gestalten ja immer nur Deutsch sprachen, immer nur Deutsch, wenn sie sie nachts weckten.«
Umso tragischer erschien nun, dass die Geister das Gesprächsangebot in deutscher Sprache mit Einheimischen nicht annehmen wollten. Die Gespensterjagd mit Mareike Dittmer schien trophäenlos. Dass sich in jener Nacht aber doch Gespenster zeigten, anders als erwartet, erfuhren wir später. Ausgehend nämlich von der zunehmend quälenderen Frage, wieso die kanadische Malerin unheimlich war, wurde das große allwissende Buch, nicht das Pfadfinderhandbuch von Fähnlein Fieselschweif, aber das von Wikipedia.de aufgeschlagen. Wer »Stabheuschrecken« eingibt, landet sofort auf folgender Seite, und das ist kein Witz und nicht mal ausgedacht: Gespenstschrecken!
Der botanische Ordnungsname dieser Viecher, die sich die kanadische Künstlerin in Bethanien aufgrund eines instruktiven Traumes als Haustiere hielt, lautet Gespenstschrecken! Der Name leitet sich vom Begriff Phasmatodeaab (griechisch: Phasma = Gespenst). Wegen ihrer Ähnlichkeit mit den Heuschrecken werden die Insekten auch »Stabheuschrecken« genannt, obwohl sie zu verschiedenen Ordnungen gehören. Letztendlich gehören diese Insekten nicht einmal zu den Schrecken im wörtlichen Sinn, da sie nicht springen können und zur Fortbewegung meist nur bedächtig wandeln. Sie werden deshalb auch als Phasmida bezeichnet – Gespenstlarve.
Wir hatten es doch noch gefasst, das Nachtgespenst. Wenn auch nicht im mystischen Sinne. Ein wenig harmlos vielleicht auch. Doch
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