Die Gespenster von Berlin
Janet, Gespenster ...) und das funktioniert. Ich darf mit hochkommen. Ich schaue mich um. Die Einrichtung ist modern, viel Weiß und Beige, Farbakzente bei Vasen, Sofakissen, Gardinen. Ich spreche die Putzfrau an, eine Deutsche. Sie hat rot gefärbte Minipli-Locken, ist stark geschminkt und führt heute einen tausendfarbigen, selbst gestrickten Seidenpullover aus. Als Handleserin würde sie durchgehen. Ich frage sie nach dem Hochhaus, aber sie kennt das Hochhaus nicht. Es ist ihr erster Tag heute. Ich bitte Bryan Senti, seinen Freund Rufus noch einmal zu fragen, was er an diesem Hochhaus so gruselig findet. Er sagt okay.
Drei Minuten später wird er sich nicht mehr an mich erinnern. Er denkt die ganze Zeit nur an Musik. Eine Oper wartet auf ihn, die Gespenster von Berlin nicht. Ich gebe ihm meine E-Mail-Adresse und bitte ihn um die seine, reiche ihm Notizbuch und einen Stift. Er lächelt gequält, aberer gibt sie mir. Kurz vor der Premiere von »Shakespeares Sonette« schreibe ich ihm eine E-Mail, erinnere an die Gespenster der Windmühle. Aber weder er noch der berühmte Sänger haben mir je geantwortet.
Formen aus Sand
Wenn Berliner Paare ins Umland ziehen, tun sie das voller Überzeugung, dass dort das gute Leben, Glück und Gesundheit auf sie und ihre kleinen Kinder warten. Kehren sie aber fluchtartig zurück in die Stadt, sollte man nachhaken, um die wahren Gründe für die Panik zu erfahren, die sie da draußen erfasste. Ein halbes Jahr nachdem Johanna fünfzig Kilometer östlich von Berlin in ein Reihenhaus gezogen war, weil der Mann vor Ort eine Arbeitsstelle angenommen hatte, wurde ihr Unbehagen zum ersten Mal konkret. »Mein Gott, wo wohnst du denn?«, sagte eine Nachbarin, die ein Paket abholen wollte und jetzt in Johannas Wohnzimmer stand. Sie arbeitete als Telefonwahrsagerin beim Fernsehen und ließ ihr Baby neben dem Fernseher schlafen. Johanna war schockiert. Mein Gott, wo wohnst du denn, sagte ausgerechnet diese grelle Gestalt mitten in ihrem behaglich eingerichteten Wohnzimmer, das sich doch mit Holzmöbeln, Büchern, bunten Kissen und frischen Blumen so viel Mühe gab. Doch die Frau hat ja recht, dachte Johanna. Längst war eine Reihe von unheimlichen Dingen vorgefallen, und weitere sollten hinzukommen. Sie überlegte lange, wie sie die speziellen Hintergründe ihrer Flucht zurück in die Stadt schildern und die ungewöhnlichen Erfahrungen beschreiben könnte, ohne jemanden zu verletzen oder zu beschuldigen. Deshalb wurden für diesen Bericht einige Namen und Orte verändert. Fast könnte man meinen, es handele sich um Fiktion. Das dient der Familie, die das erlebt hat, zum Schutz.
Doch bevor es mit Johannas Erlebnissen weitergeht, soll auf eine wichtige Grundlage dieser Geschichte hingewiesen werden; den sandigen Boden des märkischen Oderlandes. In diesem Sand fault die fatale Beziehung zwischen den Toten der schwersten Kämpfe des Zweiten Weltkrieges auf deutschem Boden mit den Überlebenden – und den Über-ihnen-Lebenden. Wenn man mit dem Auto Richtung Osten aus Berlin hinausfährt, die endlose Lichtenberger Straße hinter sich lässt und dann fünfzig Kilometer auf der B1 frisst, stößt man auf die typischen Ansiedelungen der deutsch-polnischen Mischwirtschaft. Schutthalden und Baustellen mit Fahrzeugen polnischer Kennzeichnung, Döner-Imbisse mit polnischen Übersetzungen, polnisch-bulgarischer Autostrich, Werbetafeln von Beerdigungsunternehmen, eine sagt »Trauern ist Liebe«, und immer wieder Supermärkte. Dazwischen lauern schelmisch die Blitz-Fallen auf Geschwindigkeitsübertreter. Als landschaftliche Zumutung ziehen diese Marken wiederholt vorbei, bis man endlich an der Gedenkstätte Seelower Höhen angelangt ist. Ein sagenhafter Ort. Zwischen dem 16. und 19. April 1945 fand hier und im weiteren Umkreis die letzte Schlacht vor dem Einmarsch der russischen Armee in Berlin, vor dem Ende des Krieges, statt. Über die Zahl der Opfer dieser Schlacht gab es von Anfang an unterschiedliche Angaben, je nach politischem Motiv. Die erschreckend hohe Zahl der russischen Soldatenopfer beispielsweise wurde in Publikationen der DDR radikal nach unten korrigiert – auf nur 30 000 gefallene Russen. Es waren eher 70 000 russische Soldaten, die in jenen vier Tagen gefallen waren. Aber die Legende der russischen Heldenhaftigkeit vertrug die Wahrheit wohl nicht. Dieser so wichtige russische Etappensieg – gegenüber einer zahlenmäßigunterlegenen und schon sehr versprengten, desorientierten
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