Die Gespenster von Berlin
kam zu einer Tagesmutter. Sie verbrachten die Wochenenden in Prenzlauer Berg bei Freunden, die für sie und das Kind ein Zimmer räumten. »Wenn ich sonntags wieder zurückkam, fühlte ich, wie das Haus mir wieder meine Energie entzog. Ich schlief schlecht, ich sah furchtbar aus, ich hatte keine frohe Zeit mehr.« Dennoch hielten sie an allem fest. Dann bekamen sie neue Nachbarn, ein blutjunges Paar aus dem Ort. Johanna rauft sich die Haare, wenn sie an die beiden Gestalten denkt. Sie arbeitete als Bedienung in einem Hotel, das mit Wellness-Angeboten und deftig-deutscher Küche auf die Besucher der Gedenkstätte Seelower Höhen abzielte. Er war ein mit Spinnennetzen und Runen tätowierter Angler, der Süßfische an Hotelküchen verkaufte. Das Paar trennte sich schon wenige Monate nach dem Einzug und hinterließ neben einem kurzen, schreckhaften Eindruck zwei Matratzen auf der Straße und im Haus den durchdringenden Geruch von Fischblut. Gegen den Gestank hätte vielleicht noch Ausräuchern geholfen. Und auch Johanna hätte ihr Haus, das sich mit Geistern und Geschichten krankhaft aufgeladen hatte, am liebsten ausgeräuchert, mit Kräutern, aber sie hatte Angst, das Haus würde sich dafür an ihr rächen. Diese Arbeit müsste jemand anders tun. Auch kam es ihr hirnrissig vor, ausgerechnet an diesem Flecken Erde an die natürliche Heilkraft alles Gewachsenen zu glauben. Reiner Selbstbetrug. Lauscht doch nur mal dem Flattern und Summen inder Luft, wenn Sommer herrscht. Gar nichts ist zu hören. Die Raupen in Märkisch-Oderland verenden, es sind immer weniger Schmetterlinge, und Bienen sterben auch. Die Imker vernichten den verunreinigten Honig, und wenn sie irgendwie können, ziehen sie ihre Völker aus den Gebieten ab. Die Poesie der Natur ist längst passé und Johanna ahnt den Grund. Müncheberg hatte sich als agrarwissenschaftlich bedeutender Standort vor allem durch seine aufgeschlossene Haltung gegenüber den Überlegungen der gentechnisch unterstützten Landwirtschaft verdient gemacht. Wirtschaftlich hängt die Region hinterher, sie liegt in wirklich allen nur denkbaren Feldern zurück. Doch gerade beim Anbau von Genmais nahm man eine Vorreiterposition ein. Der Anbau von Genmais war hier so groß wie nirgendwo in Deutschland. »Die Leute hier schlugen einen anderen Weg ein«, sagt Johanna. »Der Boden ist ertragsarm, er benötigt viele Wechsel, hat keine Verbindlichkeit. Das war schon immer so, hat mir eine alte Frau erklärt.« Weil aber dieses Thema auch den Arbeitsplatz ihres Mannes tangiert und somit das Auskommen ihrer Familie, verstummt Johanna an dieser Stelle. Über so unheimliche Dinge wie Schreckgespenster redet sie gern, aber Genmais und Raupentod, nein. Sie wohnt nicht mehr in Müncheberg. Kaum dass sie wieder schwanger war, zogen sie zurück nach Berlin. »Mein Mann hat uns da rausgeholt«, sagt Johanna jetzt. »Ich hatte schon keine Kraft mehr dafür. Es war die richtige Entscheidung, auch wenn es für meinen Mann viel mehr Fahrtzeit bedeutet. Wir entscheiden jetzt nur noch nach dem Bauchgefühl.«
Dem Reihenhaus sieht man das alte Unglück nicht mehr an. Es ist wieder vermietet, an Einheimische. Aber einmal noch fuhr Johanna in die Straße, nur so, bevor sie ihrenMann auf der Arbeit abholte. Nur um kurz zu halten und wieder Gas zu geben. Für das Gefühl, nicht aussteigen zu müssen. Aber denkste. Sie hatte einen Platten, und sie hatte noch nie im Leben einen platten Reifen. Also musste sie aussteigen und bei den neuen Leuten klingeln, und als es schellte, wusste sie, das Haus lacht. Es lacht sie aus, die arme Berlinerin.
Die Geisterbestellung
Ein großer schwerer Karton steht mitten im Zimmer, voll mit englischen und amerikanischen Büchern, die von allen möglichen übersinnlichen Phänomenen aus dem 20. Jahrhundert handeln. Die Geisterbücher enthalten wahnwitzige lllustrationen und Fotografien, haben großartig klingende Titel. Die Bücher gehörten einem Deutschen, der sie auf seinen Streifzügen durch die Antiquariate der westlichen Welt gekauft hat. Dann, vor nicht allzu langer Zeit, starb er, und sein Nachlass von etwa fünfzehntausend Büchern ging an ein Antiquariat, wo es in thematische Konvolute aufgeteilt und im Internet angeboten wurde. Dieses Paket kostete 63 Euro, Lieferung inklusive, und kein Nachbar wollte es während meiner Abwesenheit für mich annehmen. So wurden diese Bücher im Zentralverzeichnis antiquarischer Bücher angeboten:
»Verkauft wird ein Konvolut von ca. 35
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