Die Gespenster von Berlin
deutschen Armee – wurde mit wahnwitzig hohen Verlusten mühselig erzwungen. In der Gedenkstätte heißt das heute so: »Im Winter und Frühjahr starben bei den Kämpfen um die Brückenköpfe und bei der ›Schlacht um die Seelower Höhen‹ mehr als 100 000 Soldaten unterschiedlicher Nationen.«
Man konnte die schnell verscharrten deutschen Soldaten nach dem Krieg nicht gebrauchen, so ließ man sie in ihren anonymen Gruben, gab ihnen kein Grab, schickte ihre Knochen nicht heim zu ihren Familien oder auf Soldatenfriedhöfe. Sie waren kontaminiert mit Schuld und Blut. Dass man die Soldaten Hitlers dort in der Erde ließ, ohne ordentliches Begräbnis, das war sehr gut zu verstehen. Man wollte, für die Lebenden, eine Grenze markieren. Das war alles, nur kein Skandal. Die Grenze hieß, sich nicht einzumischen in die Belange der Toten, die doch für den Teufel Hitler gekämpft hatten und als deutsche Schweine von allen Seiten verhasst waren. So dumm starben sie, als deutsche Schweine. Wussten sie das? Fragen konnte man die Männer natürlich nicht mehr. Sie sind nicht mehr schlauer geworden, so wie die Überlebenden und die Über-ihnen-Lebenden. Für sowjetische Soldaten gab es bereits ab Ende 1945 erste Kriegsgräber, aber es konnten bei weitem nicht alle Kämpfer geborgen werden. Einige wenige ehrenamtliche Totengräber arbeiteten in der DDR halb im Verborgenen an der Suche und Identifikation der Gebeine weiter, ermöglicht dank kirchlichem Schutz. Heute sind die ideologischen Bedenken bei der Bergung der deutschen Soldatenknochen, samt ihren Stiefeln, Gürteln und Identifikationsplaketten, zwar ausgeräumt, aber esfehlen die finanziellen und personellen Mittel. Einen gibt es, es ist Erich Kowalke vom Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge, der hat schon hunderte rausgeholt. Hat sie den greisen Witwen und überraschten Nachkommen geschickt, dass sie für ein wärmeres Grab sorgen mögen. Aber auch Kowalke ist nun im Ruhestand, gräbt zwar noch ehrenamtlich, aber nicht mehr so emsig wie in jüngeren Jahren. Brandenburger Kommunalpolitikern bricht heute noch der Schweiß aus, wenn sie an ihn denken, so sehr fürchten sie, dass er wieder ein Massengrab heben könnte. Was das wieder kosten würde, und woher nehmen. Leben geht weiter. Die Toten liegen mit dem Makel des Faschismus in der Erde und halten fein stille. Aber nun. Gespenster halten nicht gerne stille. Gespenster kriechen aus den sandigen Gärten, aus den Pfuhlen, aus den Brüchen und Äckern. Es ist wahr, zwischen Berlin und der polnischen Grenze liegen sie heute noch, tausende Tote. Ihre Stiefel sind noch nicht zersetzt, die Helme hart wie Kruppstahl. Nur einen Meter zwanzig müsste man graben, kaum tiefer. Unidentifiziert, unchristlich verscharrt verharren sie dort. Deutsche und auch manche sowjetische Kämpfer. Wer im Gebiet der Seelower Höhen noch einen alten Schuppen, einen alten Stall oder nur die alten Eisenpfähle für die Wäscheleinen hinter dem Haus stehen hat, erkennt die Einschusslöcher. Hier wurde auf kurze Distanz gekämpft, auch nach dem 19. April 1945 noch, als die Schlacht schon entschieden war, die weißrussische Front nach Berlin durchbrach. »Bei unserer Rückkehr vom Treck hatten wir Jungen und die alten Männer die Aufgabe, die Leichen zu verscharren, die wie gesät auf dem Berg herumlagen«, so ein Zeugenbericht, den man auf einer der Stellwände in der Gedenkstätte Seelower Höhen lesen kann. Der Zeugeberichtet weiter, dass er bald darauf Kartoffeln in die Erde setzte, denn es war ja Frühling, höchste Zeit also, und es herrschte Not. Leben geht weiter. Immer ging die Zeit darüber hinweg, nun stehen wir hier, wo Johanna und ihr Mann Bernd in Müncheberg sich, nicht weit von den Seelower Höhen entfernt, ein Reihenhaus gemietet hatten. Ein Ort mit siebentausend Einwohnern. »Eine komische Stadt ist das«, sagt Johanna, »nicht richtig groß, aber auch nicht ganz klein.« Münchebergs alte Bausubstanz wurde durch die Kämpfe im April 1945 fast vollständig zerstört und erst im Zuge der Wiedervereinigung wurden die Häuser wieder aufgebaut. Eine rostrot geziegelte Mühle und ein Kloster aus dem 13. Jahrhundert geben dem Ort sein Gesicht zurück, obwohl hier natürlich kein Mehl mehr gemahlen und keine Mönche mehr gegrüßt werden. Mehr was zum Anschauen, eine Behauptung. Münchebergs eigentlicher Leistungsfaktor ist die Agrarwissenschaft und die Agrartechnik, und auch Bernd ist in dem Bereich forschend tätig. Wie dem sandigen
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