Die Gespenster von Berlin
zu. Es ist ein Moment großer Ernüchterung. Das also soll das Ende der Spur sein: Eine hochbetagte Frau starb im Dezember 1945. Mehr brachte die Gespenstersuche nicht ans Licht? Eine Frage noch: »Was ist Wassersucht?« Frau Volz schüttelt leicht den Kopf. Vielleicht, weil ihr diese Frage dumm erscheint, aber vielleicht auch, weil sie auf diese Weise die Gedanken stimuliert. Denn das machen einige der echten, alten Berliner so. Als wären Köpfe Apfelbäume, die man ein wenig schütteln muss.
»Wassersucht – das sagte man so. Die hatte Ödeme. Die ist glatt verhungert. 1945 gab es hier nischt zu essen, und wenn sie alleinstehend war ...«
Diese Mitteilung nun hat es in sich. Etwa hundert Meter von Heikes verhasstem ehemaligem Wohnhaus entfernt kommt er, der große Schauer. Die Gänsehaut, als die Zeiten überspringende Botschaft aus dem Reich der Toten und Vergessenen. Die Botschaft lautet: HUNGER. Die Bilder sprechen eine deutliche Sprache: Das rotbraune »Leberwursthaus« von gegenüber ‒ also der Blick auf etwas Essbares auf der anderen Seite. Unerreichbar, wenn man alt und krank ist. Wie auch der Tante-Emma-Laden unten, der zu Kriegsende keine Waren mehr hatte. Der Laden, in dem ein Kind einmal Maggi kaufte, heimlich davon naschte. Die Schmach, dass diese harmlose Verfehlung den Eltern von der Nachbarin gepetzt wurde. Die Petzerin, also die alte Klavierlehrerin, die schließlich verhungerte, in dem kaputten Winter von 1945. Dann schließlich Heike, die Neu-Berlinerin der Nullerjahre des 21. Jahrhunderts, die das Flüsterprogramm des Hauses nicht mehr ertragen konnte und auszog, bevor ihr Kind geboren wurde. Hunger also.
Nachdem Heike von meinem Recherche-Ergebnis erfuhr, schrieb sie:
»Ja, das ist wirklich eine traurige und merkwürdige Geschichte. Sie weckt seltsame Bilder, ich sehe kleine Gestalten die dunkle Treppe hoch- und runterlaufen und die Räume von oben aus der Vogelperspektive, als nähme man die Decke ab wie in einem Puppenhaus. Ich sehe die verschneite Göhrener Straße, wie schrecklich muss das gewesen sein in jenem Winter. Und die Beziehung zwischenNaschen und Verhungern ist tragisch. Vielleicht war sie eine böse Frau, die dem Kind die paar Maggitropfen nicht gönnen konnte, aber das macht es nicht weniger traurig. Da schließt sich der erzählerische Kreis und gleichzeitig denkt man an die vielen Erzählstränge, die sich in solch einem Haus noch auftun müssen.
Ich denke hierbei an die alte Frau, die unter uns wohnte, unter dem vorderen Teil unserer Wohnung. Ich hatte Dir von ihr erzählt, von der 94-Jährigen, die fast 40 Jahre schon dort wohnte und so selten zu sehen und gar nicht zu hören war, dass ich in regelmäßigen Abständen von oben auf ihren Balkon guckte, um zu schauen, ob ihre roten Geranien noch gesund aussahen. Ich habe mich immer wieder gefragt, wie sie sich versorgt, ganz selten nur sah ich sie mit ihrem kleinen Einkaufswägelchen auf der Straße.
Vielleicht gibt es poröse und weniger poröse Gebäude, aber diesem Haus traue ich eine extrem saugfähige Struktur zu, weil es so eine offene, durchlässige Oberfläche hat, weil es Geräusche macht und weil der Fugenkitt, der mir beim Staubsaugen entgegenkam, wahrscheinlich aus den 20er oder 30er Jahren stammt.«
Geht man jetzt durch die Göhrener Straße, kann man kein Leberwursthaus mehr erkennen, es ist noch da, aber es hat frische Farbe bekommen.
Die weiße Katze
Sie hatte schon zwei Katzen, eine schwarze und eine graue, bis dann der Kater zu ihr kam, der ganz und gar weiß war, ohne einen Tupfer Farbe, ohne eine einzige Zeichnung des Fells. Die schwedische Künstlerin Annika Eriksson lebt seit einigen Jahren in Berlin. Hier hatte sie mit ihren Katzen und Kindern eine Geisterwahrnehmung, wie sie es nannte. Davon soll diese Geschichte handeln. Vorher aber müssen wir mehr über die weiße Katze erfahren, denn sie hatte besondere Fähigkeiten. Aus Gründen, die Annika Eriksson nicht ahnen konnte.
Als sie dem Kater zum ersten Mal begegnete, wohnte Annika noch in Stockholm. Sie war auf dem Weg zum Fitnessstudio. Da bemerkte sie, dass ihr ein junger weißer Kater folgte und fortwährend maunzte. Sie kehrte wieder um, weil sie zuhause etwas vergessen hatte, und der Kater kam mit. Offensichtlich war seine Pfote verletzt. Sie hatte Mitleid und ließ ihn in die Wohnung. Sie rief im Tierheim an, vielleicht wurde er schon vermisst. Es blieb eine Weile in der Schwebe. Annika überlegte – sollte sie wirklich drei Katzen
Weitere Kostenlose Bücher