Die Gespenster von Berlin
groß – manche Gäste bringen ihre Familien mit und nutzen den Platz – und sie sehen nach gehobener Bürgerlichkeit aus, sind weiß gestrichen und überwiegend mit Ikea-Möbeln eingerichtet. Einige alte, aufgearbeitete Bauern- oder Stilmöbel haben die dankbare Aufgabe, gegen den unverbindlichen Ikea-Stil anzucharmieren. Der Wohnungsbetreuer Herr Bremer sagt, er würde gerne mehr Antiquitäten aufstellen, aber weil Antiquitätenhändler keine vernünftigen Rechnungen ausstellten, könne er das nicht machen.
Freundlicherweise öffnet Herr Bremer mir Annikas ehemalige Künstlerwohnung in der Innsbrucker Straße, als er sie gerade für den nächsten Bewohner herrichtet, einen britischen Künstler mit Hund, der Phil Collins heißt, bei dem es sich natürlich nicht um den gleichnamigen Popsänger handelt. Herr Bremer wechselt Glühbirnen aus und bringt für Phil Collins neue Badezimmerhaken an, währenddessen darf ich mich umsehen. Die Probleme des Steuerstandortes allerdings kann man nicht dafür verantwortlich machen, dass keine Bilder an den alpinweißenWänden hängen. »Die meisten bildenden Künstler hätten ein Problem damit, wenn wir Bilder aufhängen würden«, sagt Herr Bremer. Hundertsechzig Quadratmeter, sehr hell, vier große Zimmer. Ein herrlicher Altbau, vernünftig saniert, was will man mehr? Hier will der Kater Prinsis etwas erlebt haben, das Annika als Geisterwahrnehmung bezeichnete. »Sie testen dich«, so hatte Annika das genannt. »Die Schatten testen dich. Oder was immer da existieren mag.« Sie hatte schon ein ungutes Gefühl, als sie zum ersten Mal die Treppen in den vierten Stock hinaufging. Im dritten Stock wurde es beklemmend, und als sie schließlich in der Wohnung stand, steigerte sich dieses Gefühl zu der Wahrnehmung, dass jemand ihr einen deutlichen Schubs gab. Der Kater machte ein paar vorsichtige Schritte in die Wohnung hinein, dann drehte er durch. Aufgerissene Augen, langsames Zurückweichen und den Blick auf etwas fixiert – nicht ersichtlich, was es sein konnte. Das passierte in den folgenden Wochen oft. Und das kannte Annika nicht an ihm. Aber in dieser Wohnung reagierte Prinsis regelmäßig mit terrorisiertem Verhalten: Katzenbuckel, fauchen, starren, zurückweichen. Obwohl nichts zu sehen oder zu hören war, vor dem er hätte zurückweichen können. Nach etwa fünf Wochen legte sich der Spuk. Als Annikas Tochter einige Monate später aus Schweden eintraf, fing es wieder an. Das Mädchen hatte das Gefühl, jemand schubse sie in die Wohnung hinein, und die erschrockenen körperlichen Reaktionen des Katers begannen von Neuem – starren, fauchen, zurückweichen. Auch diesmal blieb es eine Phase, die nach sechs Wochen aufhörte. »Dann akzeptierte es uns«, sagt Annika. »Es hat vielleicht etwas mit Zeit zu tun. Es sind Echos aus vergangenen Zeiten.«
In dem Haus gibt es nur diese eine Künstlerwohnung. Alle anderen sind Eigentumswohnungen, die einer jüdischen Erbengemeinschaft abgekauft wurden. Die Stimmung, die sie in diesem Haus befällt, hat, meint Annika, mit dreierlei Dingen zu tun:
1. Die Reaktionen des Katers Prinsis wie beschrieben.
2. Die Unfreundlichkeit einiger Nachbarn.
3. Die Tafel mit den Namen der ermordeten Bewohner über dem Fahrstuhl.
Annika regt sich heute noch auf, wenn sie an gewisse Nachbarn denkt. »Man hat uns beschuldigt, Kakerlaken ins Haus zu bringen. Einige Nachbarn kamen mit irgendwelchen Ausreden in die Wohnung, nur um ihre Neugier zu befriedigen! Weil meine Tochter einen arabisch anklingenden Namen trägt, wurde ich von einer Nachbarin ständig gelöchert. Warum heißt sie denn so, warum heißt sie Fatima?«
Über dem Fahrstuhl hängt eine Tafel mit den Namen der aktuellen Bewohner, das hat man in Berliner Mietshäusern oft. Und gleich daneben – so auffällig wie ungewöhnlich – eine gerahmte und verglaste Tafel mit den Namen und Geburtsjahren ehemaliger jüdischer Hausbewohner. Dazu die Daten ihrer Verschleppung und Ermordung. Sonst steht da nichts. Die Daten sagen, dass es überwiegend ältere Hausbewohner waren, die im Jahr 1942 von Berlin aus an den Ort ihrer Ermordung verschleppt wurden. Keiner dieser Menschen überlebte den Holocaust. Das Ehepaar Fürth , er war schon 79 und sie 71 Jahre alt, als man sie nach Theresienstadt deportierte. Das Ehepaar Schimmeck , sie war 70 und er 74 Jahre alt, als sie zusammen mit den Fürthsnach Theresienstadt kamen. Rosa Schimmecks Martyrium ging von dort aus weiter, sie wurde im Vernichtungslager
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