Die Gespenster von Berlin
lässt. Sie besichtigen eine Wohnung und scheinen etwas zu wissen, das sie nicht wissen können. Die Krankengeschichte der Vormieterin, ablesbar anhand der ausgeräumten Räume. Und noch mehr. Die Schwestern warnen, sie sagen, die Wohnung würde krank machen, sie wäre unbewohnbar, sie würde Krankheit ganz sicher an die nächsten Bewohner weitergeben. So jedenfalls sieht es Heike: Die eine Frau blind, die andere Frau schwerhörig. Die Frauen besahen die Räume und sagten: Da kann niemand drin leben, man würde unweigerlich schrecklich krank werden.
Dieses raumgreifende, totale Erzählen, mit Sprüngen innerhalb weniger Worte oder Sätze – in der Märchenforschung Flächenhaftigkeit des Erzählens genannt –, erinnert an die Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm. In Heikes zweiter Geschichte vom überraschenden Besuch des alten Geschwisterpaares versetzt sich die alte Dame, eine ehemalige Bewohnerin der Göhrener Straße, sich erinnernd, in ihre Kinderperspektive: Sie hatte im Treppenhaus Maggi genascht und die Nachbarin, eine Klavierlehrerin, hatte sie dabei erwischt. Diese erzählte – also petzte – es brühwarm den Eltern, verriet also ihre eigene Schülerin, die nicht damit rechnete, auf der Treppe beim Naschen entdeckt zu werden.
Aber was tun mit diesen Hinweisen? Es dabei belassen?
Das wäre unbefriedigend, denn die Geschichte versammelt viele märchenhafte Motive: Blutstropfen bei der Unterzeichnung eines Mietvertrags. Angst, beklemmende Gefühle. Ein Haus, das Geräusche und Bewegungen überträgt. Und ein plötzlich auftauchendes altes Geschwisterpaar, das Erinnerungen an ein anderes, weitaus unheimlicheres Geschwisterpaar aus Heikes Kindheit weckt. Auch gibt es einen ganz konkreten Hinweis auf eine Person: die Klavierlehrerin. Vor dem Beginn des Zweiten Weltkriegs lebte sie in diesem Haus. Und ihr Name war leicht zu finden: Hildebrand, Clara, Musiklehrerin. Denn im Internet sind die Berliner Adressbücher von 1799 bis 1943 veröffentlicht. Ihr Name ist in den Berliner Adressbüchern der 1930er Jahre und bis 1943 zu finden. Nach 1943 setzte die Veröffentlichung der Adressbücher kriegsbedingt aus. Was ist mit Clara Hildebrand geschehen? Ein Blick in die Berliner Deportationslisten, die ebenfalls im Netz zu finden sind, zeigt: Es wurden einige Berliner mit dem Familiennamen Hildebrand deportiert, aber eine Clara war nicht dabei. Claras Geschichte geht also anders, aber wie?
Die älteste Bewohnerin des Hauses ist eine 94-jährige Dame, die den schönen Vornamen Elma trägt. Sie wirkt am Telefon zunächst so jung, dass man meint, sich verwählt zu haben. Doch nach einigen Sätzen fällt Elmas Energie zusammen und die Stimme wird, was sie naturgemäß zu sein hat: alt und zittrig. Die alte Dame sagt, sie kenne keine Frau Hildebrand, und sie wohne erst seit 1971 im Haus und sie kenne auch sonst niemanden mehr. Sie beklagt sich über die ständig wechselnde Mieterschaft. »Die Leute ziehen ein und aus.« Nächster Versuch.
In der Göhrener Straße befindet sich auch das Büro der evangelischen Elias-Gemeinde. Im Gemeindebrief sind die Trauungen, Konfirmationen und Beerdigungen der Gemeinde aufgeführt. Das sehr hohe Alter vieler Verstorbener, einige sind hundert Jahre alt geworden, ließ einen kurzen Moment lang hoffen, dass Clara Hildebrand vielleicht noch leben könnte. Die Vikarin der Elias-Gemeinde verspricht, im Seniorenkreis zu fragen, ob sich jemand an die Klavierlehrerin erinnert oder sogar Unterricht bei ihr hatte. Nach einer Woche meldet die Vikarin, dass ihre Umfrage unter den Senioren kein Ergebnis gebracht habe. Schließlich findet sich Clara Hildebrand in dem Totenbuch der Elias-Gemeinde aus dem Jahr 1945. Frau Volz, die Gemeinde-Schatzmeisterin, sucht es dankenswerterweise heraus. Frau Volz wurde in den 1930er Jahren in der Göhrener Straße geboren, wuchs dort auf und lebt immer noch im Viertel. Von einer Klavierlehrerin Hildebrand hat sie nie gehört, und das wundert sie doch. »Ich habe als Kind Klavierunterricht gehabt, aber meine Klavierlehrerin wohnte in der Danziger Straße.« In dem schwer zu haltenden Totenbuch steht in schwarzer, verschnörkelter Handschrift: Klara Hildebrand (der erste Buchstabe des Vornamens wurde also falsch eingetragen), 14. 12. 1945 gestorben. Todesursache Wassersucht. Das Geburtsdatum wurde nicht notiert, dafür aber die genaue Lebensdauer: 84 Jahre, 4 Monate, 27 Tage. Also muss sie 1861 geboren sein, rechnet Frau Volz vor. Dann klappt sie das Buch
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