Die Gespenster von Berlin
erkältet? Was koche ich heute Abend? Auf welche Schule sollen die Kinder? Verdiene ich genug? Bin ich etwa gerade in Hundescheiße getreten?
G Du hast ja auch ein Leben – ich nicht. Aber denkst du nie darüber nach, ob du dir die Miete noch länger leisten kannst, ob du eines Tages wegziehen musst?
GRin Doch, das denke ich auch manchmal. Aber ich mach mich deshalb nicht verrückt. – Du hast mir erzählt, dass du Angst hast. Das fand ich interessant, man würde ja denken, dass jemand, der Angst verbreitet, zumal wenn es sich um ein Gespenst handelt, selbst keine Angst hat.
G Das ist so falsch, unglaublich falsch. Angst ist alles.Angst ist der Ursprung. Ohne Angst gäbe es mich nicht.
GRin Das ist sehr abstrakt für die Leser. Am besten fangen wir gleich damit an, das konkret zu machen. Womit willst du anfangen? Mit den unheimlichen Orten?
G Es gibt Orte, wo ich nicht mehr sein mag, die meide ich, weil schreckliche Dinge dort geschehen sind.
GRin Welche Orte?
G Den Nordbahnhof. Den Bahnhof Friedrichstraße. Den Tümpel am Weinbergsweg, da ist jemand sturzbetrunken reingefallen und ertrunken. Das sind Orte, wo die Toten nicht zur Ruhe kommen. Die meide ich.
GRin Und gibt es auch Straßen, durch die du nicht gerne gehst, oder gar Mietshäuser, die du nicht betreten magst?
G Ich bin sehr traurig und emotional berührt, wenn ich durch bestimmte Straßen gehe oder alte Häuser betrachte. Da gibt es Wohnungen, wo Leute Ewigkeiten drin gewohnt haben. Aber die sind gestorben, und die neuen Mieter wechseln jetzt immer schneller. Es gibt immer rationale Argumente wie Studienortwechsel, Mieterhöhung, Familiengründung. Aber der Effekt ist grausam, es kehrt keine Ruhe mehr ein. Diese Ruhelosigkeit. Das merkt man den Häusern an.
GRin Macht dich das wütend? Zündest du deshalb Autos an?
G Nein, so einfach ist das nicht. Du verstehst mich nicht. Es hat keinen Zweck.
GRin Aber du wolltest doch die schreckliche Geschichte über den Nordbahnhof erzählen!
G Ist es nicht eigenartig, dass Hinrichtungen und angeordnete Folterungen, die fast zweihundert Jahre zurückliegen – also strafrechtliche Maßnahmen wie Ertränken oder Vierteilen oder Schwurfingerabhauen – dass diese Sitten einer vergangenen Zeit bis heute Schrecken auslösen?
GRin Was hat das mit dem Nordbahnhof zu tun?
G Da stand der Galgenberg, auf dem Gelände des heutigen Nordbahnhofs. Ich meine ihn heute noch da zu sehen. Ja wirklich, dort auf einer Erhöhung thronte der Galgen, fast einhundert Jahre lang.
GRin Warst du damals dabei?
G Nein, so alt bin ich nicht. Ich habe das alles erst später erfahren.
Das begann auf den Technopartys in der Raumerweiterungshalle, Ende der 1990er Jahre, die stand auf einer Brache neben dem Nordbahnhof. Da habe ich das gewittert.
Die Raumerweiterungshalle hat lange schon einen neuen Ort, ist weiter nach Neukölln gezogen. Dieses Wort: Raumerweiterungshalle. Eine DDR-Vokabel für ein DDR-Haus. Gemeint ist ein transportables Leichtbaugebäude aus Aluminium oder Stahlblech aus DDR-Produktion. Alle Raumteile ein- und ausfahrbar, wie eine Ziehharmonika oder ein Teleskop. 3400 Stück wurden in der DDR zwischen 1960 und 1989 gebaut. Sie wurden sehr unterschiedlich genutzt, als Dauerprovisorium für Ämter, Eisdielen, Schulen, Raststätten oder Kinos. In Zeiten von Raumnot und Baumaterialmangel waren das dankbare Lösungen. Aber schon bald nach der Wende verschwanden Raumerweiterungshallen aus dem ostdeutschen Stadtbild und nurwenige wurden »gerettet«. Von jungen Leuten, die sich für Architektur interessierten, für Musik, für Kunst in selbst organisierten Strukturen. Die haben Brachflächen, insbesondere in Leipzig und Berlin, zum Veranstaltungsort umfunktioniert. Der Grundrahmen des ersten Raummoduls lässt sich zu einem Fahrgestell verwandeln. Man muss einfach nur Radachsen montieren und kann die Raumerweiterungshalle dann irgendwo hinfahren, die Raumteile ausziehen, und die Party beginnt. Techno, Flaschenbier, Mate-Brause.
Eine Gestalt, die mehr guckt als tanzt, bekommt eine Gänsehaut. Tritt aus der Halle und schaut ins Gestrüpp. Das fahle Licht vom Nordbahnhof, die kaputte Uhr auf dem kleinen weißen Turm. Der Dunst lacht ihn an. Noch nie war ihm so gruslig. Er misstraut den Grünanlagen.
GRin Du bist also nicht allwissend?
G Die alten Gespenster waren sehr dumm. Sie machten nichts mit ihrer Zeit. Aber ich lese viel. Bücher über Berlin, über die Geschichte, was alles passiert ist. Aber damals hatte ich
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