Die Gespenster von Berlin
eine peinlich gekennzeichnete »Karre« vor das Haus gefahren wird. Ein Anhänger voller Mist beispielsweise. Doch langsam stieg der Druck, die Abdeckerei musste wieder verlegt werden. So bekam die Witwe Krafft, die Pächterin der Scharfrichterei und Abdeckerei in der Invalidenstraße war, im Jahr 1821 ein großes Gelände in der Jungfernheide zugesprochen. Hier brannte einige Jahre zuvor schon Berlins letzter Scheiterhaufen. Aber es war keine Hexenverbrennung. Ein junges Pärchen, das brandschatzend und plündernd durch die Gegend zog, wurde 1813 an der Jungfernheide in Gegenwart der Witwe Krafft, ihrer Knechte und einer spektakulär großen Publikumsmenge verbrannt. Solange es den Leuten erlaubt war, folgten sie zu gerne dem öffentlichen Ruf zum Beiwohnen der Leibes- und Lebensstrafen. Bis in Preußen 1851 die öffentliche Hinrichtung verboten wurde, mit der Einführung der Intramuran-Hinrichtung, Hinrichtung innerhalb der Gefängnismauern.
GRin Eigentlich komisch, dass es in Berlin kein Henkermuseum gibt. Sogar ein Zuckermuseum gibt es hier, aber kein Henkermuseum.
G Wieso auch?
GRin Im Rheinland oder in Österreich beispielsweise, dagibt es kleine, gemütliche Henkermuseen. Der Nordbahnhof gäbe einen großartigen Standort ab für ein Berliner Henkermuseum. Man könnte die Touristen anlocken, die sich nur hundert Meter entfernt auf dem Mauergedenkpark und in der Mauergedenkstätte immer nur Mauer, Mauer, Mauer geben. Berlin hat doch einige Schrecken mehr zu bieten als die deutsch-deutsche Grenze und den Kalten Krieg. Warum also keine Henkerswerkzeuge zeigen und über Strafauffassungen in den vergangenen Jahrhunderten aufklären und anschließend Blutsuppe servieren?
G Das ist zu grausig.
GRin Angst ist auch Lust.
G Nicht dass ich wüsste.
GRin Du behauptest, du fürchtest dich vor Berliner Orten, und selbst ein rostiges Henkersschwert ist dir zu viel. Aber du zündest nachts Autos an. Ist das gelebte Poesie?
G Der Vergleich ist nicht schlecht. Aber Berlin ist vollkommen anders als das Rheinland. Hier gibt es eine ewige Gewalt, die zu fürchten es Grund gibt. Dagegen wehre ich mich, gegen die Urgewalt, die in Berlin alles verschwinden macht.
GRin Wir waren beim Galgenberg stehen geblieben.
G Das ist fast 200 Jahre her. Wenn man nicht gerade ein Menschenleben zum Maßstab macht, ist das nicht viel Zeit.
GRin Man sieht dem Nordbahnhof fast nichts an. Er ist vielleicht ein bißchen trist und gruselig. Das Beachvolleyball-Feld gegenüber vom Nordbahnhof ist im Sommer sehr gut besucht, man kann da Grillwurst essen, Kinder buddeln im Sand.
G Als würde man nach der Apokalypse als Erstes in eine Bratwurst beißen. Schauderhaft.
GRin Dass Gespenster so viel Angst haben, ist unglaublich. Das ist wirklich interessant. Menschen bestehen zu neunzig Prozent aus Wasser, ich würde sagen, du bestehst zu neunzig Prozent aus Angst und Trauer.
G Ich mache mir Sorgen über die historische Entwicklung. Ich sehe alles gleichzeitig. Da kommt man auf schwarze Gedanken.
GRin Helfen dir die brennenden Autos gegen die Angst? Ist das eine Art Gespenstertherapie?
G Ich gebe zu, so ein brennendes Auto, das ist ein kleiner glücklicher Moment von Gegenwart. Mehr Lebensgefühl darf man als Gespenst nicht erwarten. Im Vergleich mit all den Gräueln, die unterirdisch im Nordbahnhof geschehen sind, ist so ein brennendes Auto auf unseren sauberen Straßen einfach nur harmlos, fast niedlich.
Im Tunnel vom Nordbahnhof sind schreckliche Dinge geschehen. Damals hieß er noch Stettiner Bahnhof. Der große, prächtige Stettiner Bahnhof, von dem aus die Berliner zu ihren Ferienorten an der Ostsee fuhren und nach Skandinavien. Der Stettiner Bahnhof bekam 1935, rechtzeitig zu den Olympischen Spielen, einen unterirdischen S-Bahn-Anbau, einzig der ist heute noch erhalten. Diese S-Bahn-Station war als nördlichste Station an die Nord-Süd-S-Bahn angeschlossen, die Strecke ging über sechs Kilometer und hatte folgenden Verlauf: Anhalter Bahnhof ‒ Potsdamer Platz ‒ Unter den Linden ‒ Friedrichstraße ‒ Oranienburger Tor ‒ Stettiner Bahnhof.
In den Bombennächten des Zweiten Weltkriegs suchtendie vielen Leute, die um den Stettiner Bahnhof wohnten und keinen Keller und keinen Bunker zur Zuflucht hatten, im unterirdischen Bereich Schutz. Da lagen auch verletzte Soldaten, zum Sterben abgelegt, ohne Versorgung, nur zum Krepieren. In den letzten Kriegsmonaten 1945 sind verwundete Wehrmachtsangehörige in den Tunnel des Stettiner Bahnhofs
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