Die Gespenster von Berlin
gebracht worden. Ihre Waggons hielten oben im Stettiner Fernbahnhof, wo Züge vom Nordosten kamen. Man brachte die Männer hinunter und ließ sie da liegen. Als es einmal laut und rauchig wurde, hieß es, ein Schwerverletzter habe sich mit einer Handgranate das Leben genommen. Es sollte schlimmer kommen. Am Morgen des 2. Mai 1945 – sechs Tage vor der deutschen Kapitulation – sprengten Unbekannte den S-Bahn-Tunnel von innen, auf der Höhe des Landwehrkanals in Kreuzberg (Tempelhofer Ufer/Halle’sches Ufer). Daraufhin drang Kanalwasser in den S-Bahn-Tunnel ein und lief auf der gesamten, 6,6 Kilometer langen Strecke allmählich voll. Die Flutung war Mord an denjenigen, die nicht entkommen konnten. Nach den Schätzungen einer rekonstruierenden Studie aus dem Jahr 1992 sind zwischen hundert und zweihundert Menschen unmittelbar durch die Flut gestorben. Die tatsächliche Anzahl der Opfer war schwer zu bestimmen, da über einen Zeitraum von etwa zwölf Monaten immer wieder und unkoordiniert Wasserleichen aus dem Tunnel geborgen wurden. Etliche wiesen Verletzungen auf, die darauf schließen ließen, dass einige bereits vor der Flut gestorben waren.
Außerdem kam es am 1. Mai 1945 bei der Evakuierung des Bunkers am Anhalter Bahnhof zu einer Art unterirdischem »Todesmarsch«, an dem Schwerverletzte, Frauen, Kinder und auch alte Menschen teilnehmen mussten. DieSS erklärte den Hochbunker zum Kampfbunker und trieb die Menschen, deren Zahl in Augenzeugenberichten mit bis zu fünftausend angegeben wurde, in den verqualmten Tunnel. Sie sollten unterirdisch zum Stettiner Bahnhof marschieren. Das Wasser stand zum Teil bereits 1,5 Meter hoch und musste durchwatet oder durchschwommen werden. In dem frühesten Bericht, der über die Flutung des S-Bahn-Tunnels publiziert wurde – er hieß »Wettlauf mit dem Tod« und erschien am 11. Juni 1945 in der Berliner Zeitung –, spricht ein Augenzeuge von nur zwölf Menschen, die überhaupt das Ziel erreichten.
Diese Zahlen sind alle sehr widersprüchlich, einhundert oder zweihundert Tunnel-Opfer oder fast fünftausend?
Kurz nach Kriegsende fanden am Stettiner Bahnhof Dreharbeiten für einen Spielfilm statt. In der Hauptrolle die junge, halb verhungerte Schauspielerin Hildegard Knef, die später in ihrem autobiographischen Bericht »Der geschenkte Gaul« schrieb: »Wie das Gerippe einer Riesenechse ragten die Reste des Stettiner Bahnhofs aus der Klamottenwüste, er war Vorder- und Hintergrund unseres ersten Drehtags für den ersten deutschen Nachkriegsfilm ›Die Mörder sind unter uns‹.Von hier waren die Züge nach Swindemünde, Stettin und Danzig gefahren, das Einzige, was ihm geblieben war, war der Name; alles andere in seiner Umgebung – Plätze, Alleen, Sackgassen – war umbenannt worden, ein jeder setzte seiner Nation ein Mahnmal in Form eines Schildes, das häufig das einzig Unversehrte in einer ansonsten unauffindbaren Straße war.«
1950 wurde der Stettiner Bahnhof in Nordbahnhof umbenannt, 1952 wurde er gesperrt, ab 1961 gab es auch keinenGüterverkehr mehr. Der Nordbahnhof wurde zum Geisterbahnhof, so nannte man das, lagen seine Gleise doch im Sperrgebiet der Berliner Mauer. Die Tunnel unter dem Bahnhof wurden zugemauert. Kurz vorher gelang noch jemand die Flucht in den Westen, der hatte einen Schlüssel vom Stellwerk und entkam durch eine Tür. Keine Ereignisse mehr, nach allem, was war, plötzlich nichts mehr. Der Tunnel hatte massig Zeit für sich, konnte in Ruhe über alles nachdenken. Es tat ja sonst keiner: Die Männer, die die Sprengung des Tunnels veranlassten und durchführten, wurden nie gefasst. Von Anstrengungen zur Ermittlung der Täter, die der mörderischen Tat angemessen wären, ist nichts bekannt. Zu den mutmaßlichen Tätern konkurrierten in der Nachkriegszeit bei der Berliner Bevölkerung zwei Legenden. Die eine Legende sagt, es waren die Russen, die andere, es war die SS. Ein informelles Gutachten von 1991, das ein Unternehmen für Sprengung, Abbruch und Munitionsbergung anfertigte, kam zu dem Ergebnis, dass die Täter Ortskenntnis und ausreichend Vorbereitungszeit bei der oberirdischen Kammer-Sprengung des Landwehrkanals besaßen: »Eine Zerstörung durch Minen ist mit ziemlicher Sicherheit auszuschließen [...]. Im Handstreich, also ohne größere Vorbereitungen, lassen sich solche Sprengungen nicht durchführen. [...] genaue Ortskenntnisse mussten vorhanden gewesen sein, da die Zerstörungen ganz gezielt auftraten. [...] Es ist unwahrscheinlich,
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