Die Gespenster von Berlin
fuhr, zählte er alle Kreuzungen, nach der siebten Kreuzung war das Würgen weg. Die Frau sagte auch, er solle nachts um zwölf auf die Brücke gehen, dann würde er denjenigen sehen, der ihm Böses tut, der ihn unterhat.
Mein Bruder ging Mitternacht zur Brücke in Klüs und da sah er den bösen Mann, wie er aus dem Schweinestall kam. Der Mann hat bei der LPG im Schweinestall gearbeitet, und als er sah, dass er entdeckt worden war, ist er vor Schreck davongerannt und hat ihn nie wieder untergekriegt. Endlich war das Würgen vorbei. – Von zwölf bis eins ist Geisterstunde, das wissen Sie ja, da gehe ich niemals raus, nie.
Manche haben ja das siebte Buch Mosis, das Zauberbuch, das siebte Buch Mosis, die Fähigkeit zum Bösen. Wer das Buch hat, der gibt es weiter, sonst kann er nicht sterben. Der böse Mann aus Klüs gab es seiner Lebensgefährtin und die Lebensgefährtin musste es einem Mann geben, und wer es jetzt hat, wer weiß. Es muss aber immer abwechselnd weitergegeben werde, Mann auf Frau, dann wieder Mann, dann Frau. Sonst können sie nicht sterben. Das ist natürlich auch so ein Ausdruck: Die haben das siebte Buch Mosis. Aber das Hexenbuch, das gibt es wirklich. Ich habe es gesehen.
Entschuldigung, an dieser Stelle machen wir eine Vollbremsung und halten den Zug an!
Liebe Frau Erika, Sie haben an jenem Vormittag, als ich Sie besuchen durfte, natürlich nicht angehalten, Sie haben weitergesprochen und ich habe alles mitgeschrieben und dabei staunende und glückliche Augen und Ohren bekommen, aber ich muss Sie jetzt unterbrechen, um zu überlegen, wie es weitergeht mit Ihnen und uns und all den Gespenstern, die Sie rufen. Denn das, was ich an jenem Vormittag von Ihnen zu hören bekam, war so ganz anders als die ergänzungsbedürftigen Splitter vom Unbehagen, die mir die meisten Städter bisher anvertrauten. Zwischen Ihnen, liebe Frau Erika, und den Informanten der anderen Geschichten besteht ein wesentlicher Unterschied: Sie haben eine Vorstellungswelt zur Verfügung – die Welt der Glaubensdinge und Wunder – und auch ein ganz bestimmtes Motiv, das siebte Buch Mosis. Mit diesen festgewachsenen Instrumenten können Sie von bösen Schweinequälern, Verwünschungen und Abwehrzaubern erzählen. Ihr Erzählen hält sich nicht mit Zweifeln auf, Sie machen keine Rückzieher und wackeln nicht. Sie sprechen ganz in der alten Weise, die aufzuheben und weiterzuerzählen wert ist und die mich beeindruckt.
Sie erklärten mir, wie das ist, wenn die Leute sterben: Dann kommen sie noch mal wieder. Ihr Opa ist 1986 gestorben, und vierzehn Tage danach ist er noch mal über den Hof gelaufen und hat noch mal nach allem geguckt. Das war frühmorgens, noch vor dem Frühstück, Sie haben die Wäsche draußen aufgehängt und ihn beobachtet. Danach aber, sagten Sie, sei er nie wieder aufgeschlagen. Eine liebe Hexe nennt man Sie manchmal, haben Sie gesagt, und wenn Sie weiß träumen, dann wird wieder jemand sterben oder krank werden. Aber Sie unternehmen dann nichts, denn Sie haben ja eine sehr große Familie und wollen keine Aufregung erzeugen. Also was tun?
Sie bewegen sich in ihrer Erzählweise ganz wie eine Märchenfigur, das Diesseits und das Jenseits spielen auf einer Ebene, durch Allverbundenheit sind die jeweiligen Phänomene kontaktfähig, und Sie selbst als liebe Hexe mit dem grünen Daumen sind dabei in einer abgegrenzten Position handlungsfähig, so wie die klassischen Märchenfiguren, die losziehen konnten.
Liebe Frau Erika, ich möchte Ihre Gespenstergeschichten mit Respekt weitergeben, aber ich muss das anders tun, als Sie es taten. Wenn ich Sie von der Leine ließe, so wie ich es zunächst fast demonstrativ hier tat, dann würde das nicht lange gut gehen mit Ihnen und den Lesern dieses Buches. Sie haben bisher immer vor dem besten Publikum überhaupt erzählt, vor den Kindern. Wenn Sie Ihre Töchter auf Klassenfahrten begleiteten und abends die Gutenachtgeschichte am Lagerfeuer erzählten, dann konnten Sie nicht widerstehen, die Geschichten vom Schweinequäler oder vom Friedhof rauszuholen, auch auf die Gefahr hin, dass die Kinder sich nachts nicht mehr zum Pullern raustrauen.Hauptsache, es kommen keine Schatten. Sehr lehrreich. Aber schon Ihrem Schwiegersohn wollen Sie die Geschichten nicht erzählen. Sie fürchten, dass die Erwachsenen mit Ihren Geschichten nichts anfangen können. Vielleicht können sie doch etwas damit anfangen, wenn ich aus Ihnen eine Märchenheldin mache.
Bevor es mit Frau Erikas
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