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Die Gespenster von Berlin

Die Gespenster von Berlin

Titel: Die Gespenster von Berlin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Khan
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dass die Täter keine Pläne hatten.«
    Die Russen, die keine erkennbaren Motive für eine derartig sinnlose Sprengung haben konnten, scheiden als Täter wahrscheinlich aus. Ein Motiv der SS könnte gewesen sein, mit der Sprengung des S-Bahn-Tunnels der russischen Armee den zügigen unterirdischen Nord-Süd-Weg durch die Stadt abzuschneiden. Vielleicht sogar das Vordringen durch den Tunnel in den Nahbereich der Reichskanzlei zu verhindern, denn die S-Bahn-Station »Unter den Linden« war ja auch von der Flut betroffen.
    Ein weiterer Hinweis auf die Täterschaft der SS ergibt sich aus einem Bericht über das jüdische Ehepaar Walter und Leonie Frankenstein, das in Berlin mit zwei kleinen Kindern den Holocaust überlebte: »April 1945, die Schlacht um Berlin ist im Gange, und die allerletzten Tage in der Illegalität verbringt die Familie im Bunker der U-Bahn am Kottbusser Tor in Kreuzberg, zusammen mit deutschen Frauen und Kindern. Walter versteckt sich im oberen Bett unter einem Strohsack: ›Bevor die Sowjets kamen, kam erst einmal die SS. Die wollten den Bunker unter Wasser setzen. Sie haben gesagt, für deutsche Frauen und Kinder sei es nicht angebracht, das Kriegsende zu überleben.‹ Doch die Frauen bringen die SS von ihrem Vorhaben ab.« ( taz , 5. 11. 2005)

    GRin Noch mal zurück zu den Anschlägen auf Autos. Die Staatsanwaltschaft hat ja über Wochen den Soziologen Andrej Holm in Untersuchungshaft genommen, der sich als Wissenschaftler mit Stadtwandel, Verdrängung und Gentrifizierung in Berlin beschäftigte. Man hielt ihn irrtümlich für den geistigen Anführer der Brandstifter, die sich zum Teil einer ähnlichen soziologischen Fachsprache bedienen. Aber wenn ich dich so sprechen höre, wird deutlich, dass der Blick eines Autoanzünders überhaupt nicht soziologisch sein muss, sondern eher historisch. Das ist doch ziemlich irre, Motivation und Wut aus der Vergangenheit zu beziehen. Du bist ein junges Gespenst, hast du gesagt, du bist ja gar nicht aus der alten Zeit.
    G Was ist die Frage?
    GRin Es ist die Frage nach dem Urbild. Was hat dich erschaffen? In Clint-Eastwood-Filmen kommt diese Frage immer: Was siehst du, wenn du die Augen schließt?
    G Es ist wie bei allen Gespenstern.
    GRin Ein dunkles Geheimnis? Ein Fluch? Eine Schuld?
    G Es ist die Familiengeschichte.
    GRin Erzählst du sie mir?
    G Mein Großvater war Sanitäter in Stalingrad. Er kam gerade noch raus, denn er fälschte mit einer Gruppe von Arbeitern Marschbefehle. Als er zurück in Berlin war, am Anhalter Bahnhof, da schnauzte ihn ein SS-Mann heftig an, weil er nicht gegrüßt wurde. Der Großvater erwiderte – auf Stalingrad anspielend: »Wenn du erlebt hättest, was wir erlebt haben, dann würdest du hier nicht so rumbrüllen!« Der SS-Mann war aber wenig beeindruckt und drohte ihm mit Kriegsgericht. Es kam zu einem Kampf zwischen den Männern. Der Bahnhof aber war voll mit flüchtenden, aufgeschreckten Frauen. Die Frauen schalteten sich in den Kampf ein und warfen den SS-Mann vor einen einfahrenden Zug. Er wurde von dem Zug überrollt. Der Großvater kam daraufhin in Untersuchungshaft, monatelang, aber er überlebte.
    GRin Das also ist die Urszene?
    G Sieht so aus.
    GRin Aber diese spektakuläre Geschichte klingt allzu phantastisch, sie kann kaum wahr sein. Da kamen also Frauen, packten den SS-Mann, warfen ihn voreinen rollenden Zug, der Held kam ins Gefängnis und fertig war der Widerstandskämpfer.
    G Ich lasse mir meinen Großvater von dir nicht schlechtmachen! Da bin ich sehr empfindlich.
    GRin Entschuldige bitte, ich möchte doch deinen Großvater nicht schlechtmachen. Es imponiert mir sogar, dass er so gewitzt war, Marschbefehle zu fälschen. Da gehörte Mut und sicher auch einiges Können dazu. Das hat ihm in Stalingrad bestimmt das Leben gerettet. Aber das war doch eher eine riskante Trickserei und weniger ein Akt von politischem Widerstand. Diese Geschichte soll als Begründung herhalten, dass heute Autos angezündet werden? Dich stören doch die Menschen, die heute in Mitte leben?
    G Die neuen Bewohner haben mehr kaputt gemacht als jeder Krieg. Mehr als jeder Krieg haben die hier alles zerstört. Die pflegen zwar die Berlin-Nostalgie mit Döblin im Bücherschrank, aber sie haben den Berliner Dialekt vertrieben. Die Sprache der kleinen Leute, der Altberliner Bevölkerung.
    GRin Warum spukst du nicht ordentlich und machst diesen Leuten Angst in ihren eigenen vier Wänden?
    G Das ist gar nicht so leicht. Dazu müssten die Leute

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