Die Gespenster von Berlin
Großmutter, mit der sie viele, viele Jahre unter einem Dach lebten, bis sie 96 Jahre alt war. Warum die Oma immer so gehässig war und keinen Menschen in Frieden lassen mochte, das wusste niemand. Sie war wohl schon immer so. Du lässt mich nicht sterben, hat sie Frau Erika in ihren letzten Jahren immer vorgeworfen, du lässt mich nicht sterben. – Draußen im Garten vor Omas Fensterwuchs eine Freudenblume, die war wunderschön. Als sie dann in ihrem Zimmer gestorben ist – sie ist so schwer gestorben –, da hat Frau Erika das Fenster aufgemacht und die Seele rausgelassen. Früher hat man die Spiegel verhängt, wenn jemand gestorben war. Aber man muss die Fenster aufmachen und die Seele rauslassen, so geht das. Aber nach vierzehn Tagen kam die Oma wieder. Eines Morgens um acht Uhr ging die Tür einen Spalt auf. Und am nächsten Morgen wieder um acht Uhr ging die Tür einen Spalt auf. Morgens um acht hat Frau Erika sie gewaschen und gewindelt, sie hat sie ja jahrelang gepflegt. Da ging Frau Erika zu ihr ins Zimmer und rief: »Oma, jetzt lass mich bitte in Ruhe, ich schaffe es nicht, du hast dein Leben gelebt, ich hab dich sechs Jahre lang gepflegt, jetzt lass mich in Ruhe.«
Sie hat fast geheult, es war sehr schwer. Dann aber ging die Tür nie wieder auf. Die Freudenblume ist dann gleich eingegangen, die hat Frau Erika nie wieder hingekriegt. Irgendwas nehmen sie immer mit, dachte sie, und die Oma hat die Freudenblume mitgenommen.
Wie das kam, dass sie so furchtbar schwer gestorben ist? Sie lag schon tagelang wie reglos im Bett, man dachte, nun ist es bald vorbei, aber dann kam immer wieder Kraft in den Leib, sie hob und beugte den Oberkörper und schlug mit den Armen auf die Decke und rief: »O je, o je! O je, o je!«
Woher nahm sie nur diese Kraft?, fragten sich alle, wenn sie sahen, wie sie sich quälte. Da sagte Frau Erika zu ihrer ältesten Tochter: Ich glaube, die Oma hat noch was zu erledigen auf Erden. Da wurde die Oma plötzlich ganz ruhig. Frau Erika faltete ihr die Hände und ging raus, setzte sichin den Wintergarten und wartete. Kurz danach starb die Oma, so, mit den von Frau Erika gefalteten Händen. Denn sie wird gehört haben: Die Oma hat auf Erden noch was zu erledigen, das hat sie beruhigt. Was sie zu erledigen hatte? Das hat Frau Erika auch erst auf der Beerdigung erfahren. Zur Beerdigung kamen nämlich auch die Cousins der Oma, und die erzählten, was los war.
Die Oma wurde 1905 geboren, und als sie noch ein junges Mädchen war, ist sie in Polen in Stellung gewesen, bei einer jüdischen Familie in Kaki. Der Hausherr war ein Fleischer. Das Mädchen, noch keine zwanzig Jahre alt, wurde vom Hausherrn rund und bekam einen Jungen. Den Jungen ließ sie bei der Familie zurück, die sich so sehr einen Sohn wünschte. Böse Zungen behaupten, sie hätte das Kind an den Fleischer verkauft, aber das ist gar nicht der Kern von der Sache. Die Sache ist, dass sie zurück nach Hause ging und das Kind nie wieder sah und auch nie erfuhr, was später mit ihm geschah und ob es als Sohn eines jüdischen Fleischers den Krieg und den Holocaust überleben konnte. Machte sie sich überhaupt Gedanken, und in welche Richtung? Doch kein Wort, keiner wusste davon, nicht Frau Erika und auch nicht ihr Mann, der ja der Enkel war. All die Jahre kein einziges Wort. Zu niemandem. Vielleicht war sie deshalb so gehässig. Deshalb fiel ihr auch das Sterben so schwer, denn das zu klären hatte sie eigentlich noch vor auf Erden.
Das waren sie, die Geschichten von Frau Erika und dem Reich der Geister. Onkel Heini kommt in die Küche, es ist zwölf. Onkel Heini ist der ältere Herr, der als Untermieter in den ehemaligen Räumen der Oma wohnt, da, wo sie so schwer gestorben ist. Onkel Heini hat bis eben noch imWintergarten gesessen und dort die Regionalzeitung gelesen. Als wir anfangs den Hausrundgang machten, saß er neben der großen Bügelmaschine. Eine Bügelmaschine aus Holz und Eisen, mindestens ein halbes Jahrhundert alt, mit großen halbzerschlissenen und braun verblichenen Walzen, die heiß werden und sich drehen, heben und senken, von einem Fußpedal betätigt.
Frau Erika sagt, zu ihr kommen die alten Leute aus dem Ort und bügeln hier ihre Laken. Das holt die Erinnerung an den eigenen Opa her, der Pastor in Hamburg war und leidenschaftlich vor der Constructa-Bügelmaschine saß und dabei laut seine Gedanken zu Theologie und Philosophie ordnete.
Beim Bügeln assistierte ihm ein Kind, das musste sich hinstellen und die
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