Die Gespenster von Berlin
Arme halten wie »Hände hoch«, dann wurde das Laken über das Kind geworfen und die ganze Veranstaltung mit Wasser eingesprüht. Das Kind stand da wie ein Gespenst, drehte sich, damit die andere Seite des Gespenstes auch besprüht werden konnte. Das feuchte Tuch wurde gelegt und gefaltet und kam ordentlich zwischen die heißen Walzen. Ein Zischen und Dampfen, das war schön. Frau Erika versteht genau, was ich meine.
Dann gibt es endlich die Suppe. Sie war sehr stark gesalzen, und doch, nicht ein einziges Körnchen zu wenig.
Die Wände und die Ohren
Die Meyerheimstraße ist die letzte Straße, wo der Prenzlauer Berg noch das zeigt, was er schicksalhaft zeigen soll, die Immobilienmakler nennen das Lebensart. Schon eine Straße weiter fängt ein anderes Gebiet an, Dunkeldeutschland, wo Plastiktüten Proleten ausführen, Hunde Meik heißen und die Bockwürste dicker als ihre Verkäufer sind. Unser Freund Kristof wohnte in dieser heimeligen Grenzstraße, und von unseren wenigen Besuchen bei ihm handelt diese Geschichte, die zwar einen echten Geist hat, aber nicht gruselig sein kann, da zu viel Geschrei darin vorkommt. Irrengeschrei, Babygeschrei, Pärchengeschrei.
Kristof ist ein Künstler, der gerade die Trennung von seiner langjährigen Lebensgefährtin verkraften mußte, die sich in einen anderen Künstler verliebt hatte, und er war zu einer Bekannten gezogen, die nur selten zuhause war. Sie teilten sich 94 Quadratmeter, drei Zimmer. Die Wohnung war verwinkelt, aus zwei Wohnungen in dieser Etage hatte man drei gemacht. Bei unserem ersten Besuch wollte er uns die Prärielandschaften zeigen, die er im Ruhrgebiet fotografiert hatte. Es war ein Frühlingsmorgen, er hatte Kaffee gekocht und mein Mann Jörg und ich hatten Brötchen mitgebracht. Die Fenster zur Straße waren auf, Vogelgezwitscher füllte die Luft, und wir beglückwünschten ihn zu der Wohnung, die netter zu sein schien als die im Wedding, wo er vorher mit der Ex gelebt hatte. Als er die ersten Abzüge auf den Boden des Wohnzimmers gelegt hatte, setzte ein unendliches Gebrüll ein. Es kam aus dem oberen Teil des Hauses. Eine männliche Stimme.
»SCHWEINE. SCHWEINE. ZIEHT EURE SCHWEINEKOSTÜME AUS IHR SCHWEINE. ALLE WOLLEN WISSEN, WAS TIEF VOM ARSCH KOMMT WOLLEN SIE GENAU WISSEN WAS TIEF VOM ARSCH HER KOMMT. WENN ICH EUCH SEHE, DANN GEFÄLLT MIR MEIN EIGENER ARSCH IMMER BESSER. MEIN EIGENER ARSCH IHR ÄRSCHE HÖRT IHR. DEN GRÖSSTEN ARSCH FÜR DIE GRÖSSTEN ÄRSCHE IHR DUMMSCHEISSER. ICH SCHEISS EUCH DEN HALS VOLL. JETZT GLEICH AUFGEPASST. IHR KRIEGT DOCH SONST NICHT DEN HALS VOLL. JEMAND MUSS ES MACHEN. IHR SEID FICKER. IHR TUT DEN WEICHEIERN WEH. IHR SEID ALLE WEICH. IHR HÄTTET KEINE CHANCE, WENN HIER DER KRIEG AUSBRICHT. DANN SUCHT IHR ALLE DECKUNG MIT EUREN FETTEN ÄRSCHEN. DANN WEINT IHR. ICH ZEIG EUCH, WIE ES GEHT. DAS WIRD SCHMERZHAFT IM ...«
Wir lachten, gingen auf den Balkon und sahen einen jungen Mann, der aus dem Fenster deklamierte. Kristof sagte, das sei der punkige Typ aus dem vierten Stock, eigentlich schüchtern, aus Fulda stammend. Der schüchterne junge Mann aus Fulda hörte gar nicht mehr auf. Wir schüttelten den Kopf, gingen zurück in den Raum und schlossen Fenster und Balkontüren. Man hörte ihn immer noch, aber wir versuchten das zu ignorieren, uns auf die Fotos zu konzentrieren. Kristof erklärte die Hintergründe einzelner Motive, sprach über seine Entdeckungen und Erlebnisse in Essen und Bochum. Er hatte Frank Castorf kennen gelernt und für ein Theaterfestival eine Cowboystadt mit Saloons und Hütten gebaut. Immer wieder mussten wir rausschauen, um die Passanten zu beobachten, die vor dem Haus stehen blieben und kicherten. Sie klatschten Beifall, machten Fotos und Audioaufnahmen, riefen Freunde an und ließen die übers Handy mithören. Die Ablenkung war zu groß. Wir gingen wieder auf den Balkon. Einer rief uns und fragte, ob wir den Mann kennen. Ob es sich vielleicht um eine Kunstaktion handele, um eine Werbefilm-Aufnahme oder die Aussprache einer mutigen Wahrheit, quasi Politaktion. Niemand machte sich Sorgen um die Gesundheit des armen Mannes, der nun auch weinte und sich übergeben musste. Niemand fragte sich, wie er die Strapazen des anhaltenden Schreiens überhaupt verkraftete, ob er zwischendurch wenigstens ein Glas Wasser trank oder wie das enden sollte, ob er sich noch stürzen würde. Sonderbar, auch wir machten uns keine Sorgen um ihn. Wir gingen wohl alle von einem freiwilligen, performativen Akt aus. Als
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