Die Gespenster von Berlin
könnte der junge Mann jederzeit wieder aufhören. Als wäre es nur gespielt. Dass mit dem Haus etwas nicht ganz in Ordnung war, wussten wir damals nicht. Als sich jemand Sorgen um die Mittagsruhe machte, da war die arme Sau schon mehr als zwei Stunden am unentwegten Brüllen, Wimmern, Kotzen, rief endlich jemand die Polizei. Erleichtert sahen wir, wie der Einsatzwagen hielt, zwei Polizisten sich Gummihandschuhe anzogen und Masken aufsetzten. Wir gingen ins Treppenhaus, wir hörten, wie sie die Tür zur Wohnung eintraten, und sahen, wie sie den jungen Mann mit Handschellen da rausholten. Er hatte Schaum vorm Mund und schüttelte ihn flockenweise in unwillkürlichen Zuckungen ab. Die Polizisten stützten den halb Ohnmächtigen, total Erschöpften. So verschwand er im Streifenwagen. Endlich ließ er es hinter sich, das Ding im Haus, von dem wir später annahmen, dass es sich damals zum ersten Mal zeigte.
Als Kristofs Mitbewohnerin eine Arbeit in einer anderen Stadt bekam, übernahm er den Mietvertrag. Und da seine neue Freundin Melanie, kaum dass er sie geküsst hatte, bereits schwanger von ihm war, bot es sich an, hier das Familiennest zu bereiten. Wenige Wochen vor der Entbindung saßen wir wieder im Wohnzimmer in der Meyerheimstraße, es war unser zweiter Besuch. Melanies Möbel und Teppiche hatten für eine Behaglichkeit gesorgt, die Kristof alleine nicht hinbekommen hätte. An den Wänden hingen schwere goldene Rahmen, offensichtlich antike, wertvolle Stücke, und wir wunderten uns, dass sie ohne jedes Bild waren, sozusagen nichts rahmten. Melanie erklärte, die Rahmen seien Erbstücke von ihrer russischen Großmutter und das Einzige, was sie von dem russischen Familienteil geerbt hätte. Kristof hatte Coq au Vin gekocht, es fehlte noch der Reis. Er setzte einen Topf mit Wasser und Reis auf den Gasherd und brachte eine Flasche Wein mit ins Wohnzimmer. Wir hatten Melanie einige Babysachen und Elternratgeber mitgebracht, die wir nicht mehr benötigten. Melanie besah jedes Kleidungsstück und jedes Buch genau. Sie platzte fast vor Erwartung und hatte zu jedem Aspekt der Neugeborenenpflege eine Meinung. Jede Wachstumsphase, jede Kinderkrankheit und jede Ernährungsempfehlung war ihr Anlass, sich alles Mögliche auszumalen. An uns war es, geduldig die Klappe zu halten und möglichst viel Wein zu trinken, um diesen so typischen wie unvermeidlichen pränatalen Stuss zu ertragen. Plötzlich schrie Kristof auf. Der Reis! Total vergessen! Er musste ja verbrannt sein. Wir drängten zum Herd. Doch der Reis war perfekt, der Herd aus. Vielleicht hatte ja das überkochende Wasser die Flamme gelöscht, rätselten wir. »Müsste dann nicht eine Wasserspur zu sehen sein?«,zweifelte Kristof. »Aber da ist keine Wasserspur, kein einziger Tropfen.« Er begann den Tisch zu decken, dabei murmelte er mehr, als dass er zu uns sprach: »Das war jetzt nicht das erste Mal. Manchmal schaltet sich der Fernseher aus, und zwar ganz aus, nicht nur auf Standby. Gleichzeitig springt die Stereoanlage im anderen Zimmer an und eine CD fängt an zu spielen, obwohl die Geräte nicht am gleichen Stromkreis hängen.«
»Hör auf damit«, sagte Melanie. »Mit dem Gerede macht man das nur stark. Ich will das nicht in meiner Wohnung!«
»Worüber sprecht ihr? Habt ihr einen Geist? Das ist nicht ungewöhnlich in Berlin.«
»Ich darf das Wort Poltergeist nicht sagen«, sagte Kristof. »Wir haben uns auf den Begriff ›negatives Karma‹ geeinigt. Aber es ist nicht negativ. Es ist uns freundlich gesonnen. Sonst hätte es doch auch nicht den Herd ausgeschaltet, oder?«
Melanie ging wütend in ihr Zimmer. Der Tisch war gedeckt. Kristof stellte Kerzen auf, brachte Wasser, Salz, einen Korb mit Brot und eine Schüssel grünen Salat. Er bat uns, schon mal anzufangen. Er ging zu Melanie. Wir aßen Salat und hörten, wie sie sich stritten.
»Jetzt habe ich Angst! Jetzt darfst du mich nicht mehr in dieser Wohnung alleine lassen! Heute gehst du nicht mehr aus!«
Kristof versprach ihr, nichts mehr zu erwähnen, was ihr Angst machen könnte. Wir blickten uns enttäuscht an. Über den Poltergeist der Meyerheimstraße hätten wir gerne mehr erfahren. Das anschließende Tischgespräch verlief vorhersehbarer. Es ging um die Arbeit und die Karriere und um die Frage, ob man genug arbeitete und was einen eigentlich ständig davon abhielt, mehr vom Besserenzu tun. Ein Thema, auf das dieses schwangere Pärchen, beide freiberuflich, leider nicht mit Harmonie und Optimismus
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