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Die gestohlene Zeit

Die gestohlene Zeit

Titel: Die gestohlene Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heike Eva Schmidt
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um«, hatte Laurin seinem widerstrebenden Begleiter befohlen. Im geräumigen Inneren wurde Thoralfs Nase vom Duft von Kräutern und Blumen in der Nase gekitzelt, der von einem komischen Ding kam, das vorne von einem kleinen Spiegel baumelte. Laurin war ebenfalls in die Kutsche geklettert und hatte die vielen Hebel und Knöpfe bestaunt.
    Als sie gerade im hinteren Teil der Kutsche nachsahen, ob es irgendwelche Schätze zu rauben gab, ertönte ein merkwürdiges Klickgeräusch, und die Lichter im Bug hatten zu blinken begonnen. In derselben Sekunde waren die vorderen Türen aufgerissen worden, und zwei Menschlinge ließen sich auf die Sitze fallen, ein Mann und eine Frau. Sie stritten sich heftig, wobei die Frau dem Mann vorwarf, sie viel zu lange »durch das verdammte Gebirge« gejagt zu haben.
    »Deinetwegen habe ich mir einen Sonnenbrand geholt!«, hatte sie gekeift.
    »Dann geh doch das nächste Mal zur Kosmetikerin statt zum Wandern!«, brüllte der Mann zurück.
    »Das mache ich auch!«, schrie sie. »Ich lasse mir nämlich die Zehennägel lieber rot lackieren, als sie mir blau zu laufen, nur weil du einen auf Reinhold Messner machen musst!«
    Die Zwerge hatten fasziniert gelauscht. Doch plötzlich begann die Kutsche zu brummen, und noch ehe die Zwerge reagieren oder gar flüchten konnten, setzte sie sich in Bewegung.
    Innerhalb kürzester Zeit wurde sie schneller, als drei Dutzend Pferde es je vermocht hätten. Laurin samt seinem Untertan blieb nichts anderes übrig, als sich im Heck unter einer Plane zu verbergen, wo bereits ein schwarzes Rad lag, und abzuwarten, bis die Kutsche anhalten würde und sie fliehen konnten.
    Erst nach langer Zeit war es so weit gewesen. Der Lärm und das Vibrieren verstummten, genau wie die keifenden Stimmen. Türen schlugen, es folgte ein Klicken von Schlössern – und dann: Stille.
    Laurin hatte als Erster den Kopf unter der Plane hervorgesteckt. Nachdem er überzeugt war, allein zu sein, durchsuchte der König den Rest der Kutsche. Mit einem triumphierenden Kichern zog er eine riesige, mehrfach gefaltete Karte von der gesamten Umgebung aus einem Fach und stopfte sie zu seinem Skarabäus in die Tasche. Anschließend schlüpfte er aus der Kutsche, gefolgt von seinem zitternden Getreuen.
    Sie standen in einer Häuserschlucht. Rechts und links, vor und hinter ihnen ragten die Gebäude auf, und ihre Heimat, die Berge, waren am Horizont nur noch schemenhaft zu erkennen. Thoralf brach in lautes Jammern aus, doch Laurin befahl ihm barsch, still zu sein. Der König huschte in einen Hauseingang und breitete die Karte aus, ehe er seinen Späher zum Leben erweckte. Zuerst reagierte der Skarabäus nicht, doch auf einmal fingen seine Fühler an zu zittern, und er lief los, direkt auf die Linie zu, die mitten in die Stadt führte, in der sie waren. »Similde«, hatte der König geflüstert, »sie ist hier!«
    Geleitet von dem magischen Käfer, führte der Weg die Zwerge durch viele Straßen und Gassen. Weil die Leute ihnen jedoch die ganze Zeit nachblickten und hinter vorgehaltener Hand tuschelten, kam der König auf die Idee, sich »als Mensch zu tarnen«, wie er erklärte. Er befahl Thoralf, sich in eines der zahlreichen Häuser zu schleichen, deren Türen offen standen und wo in großen Fenstern viele Kleidungsstücke an starren Puppen in Menschengröße hingen. Dort, so lautete Laurins Order, sollte Thoralf etwas stehlen, mit dem sie beide als hochgewachsener Menschling durchgehen würden. Also war er an einigen der großen Fenster vorbeigestrichen, immer darauf bedacht, sich im Schatten der Häuser zu halten und keine Aufmerksamkeit zu erregen. Doch ständig gingen Leute ein und aus, und Thoralf hatte lange Zeit nicht gewagt, eines der Gebäude zu betreten. Bis er an einen schmalen Eingang kam, der in einen düsteren Raum mündete, in dem es nach Rauch und verbrannten Kräutern roch. Da Thoralf nicht wusste, was das Schild »Kostümverleih« bedeutete, huschte er hinein. Kein Menschling war zu sehen, aber an der Seite stand eine silberne Stange, an der mehrere Capes und große Hüte hingen. Der Zwerg zögerte nicht lange, sondern griff hastig nach dem erstbesten Umhang sowie einem breitkrempigen Hut mit Feder und floh. Der König schien zufrieden.
    »Nun sind wir nicht viel anders als die Menschlinge«, hatte er verkündet und auf den Schultern des armen Thoralf Platz genommen, ehe er sie beide in den Umhang wickelte und sich den Hut tief ins Gesicht zog. So torkelten sie mehr durch die

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