Die Gestrandeten - Im Sog der Zeiten, Bd. 4
gerade an sie gedacht.«
»Aye«, murmelte Staffe. »In gefahrvollen Nächten wie diesen denkt man gern an die Lieben in der Ferne. Aber …«, er hielt das Licht dicht an Jonas’ Gesicht und schien es genau zu betrachten. »Du hast doch nicht etwa gemeint, deine Schwester hier auf dem Schiff zu sehen? Menschen oder Dinge zu sehen, die es nicht wirklich gibt?«
»Natürlich nicht«, erwiderte Jonas entrüstet. »Ich kann Wirkliches von Unwirklichem unterscheiden.«
Merke, sagte Jonas zu sich selbst. Verliere kein Wort darüber, dass deine Schwester unsichtbar und mit dir durch die Zeit gereist ist, um hierherzukommen, und dass wir keine Probleme mehr hätten, wenn wir nur zu jemandem durchdringen könnten, der im Jahr 1600 festsitzt, und …
»Gut«, sagte Staffe, den das zu erleichtern schien. »Es gibt schon zu viele Leute auf diesem Schiff, denen es schwerfällt zu unterscheiden, was wirklich ist und was nicht. Hast du gehört, dass Wydowse unten mit dem Tode ringt und redet, als wäre er von Sinnen?«
Er schüttelte bekümmert den Kopf. Jonas versuchte sich daran zu erinnern, welcher der Seeleute Wydowse war. Ach ja, der Mann in der Schaluppe, der den Kompass gehalten hatte.
Derjenige, der darauf hingewiesen hatte, dass die
Discovery
unmöglich aus Südwesten zu ihnen zurückkommenkonnte, wenn sie doch in nordöstlicher Richtung davongesegelt war.
»Aber ich bin nicht an Deck gekommen, um dir nur schlechte Nachrichten zu überbringen«, sagte Staffe. »Sieh nur.«
Er zog ein Buch aus seinem Umhang und hielt es Jonas hin. Wenn er die Augen zusammenkniff, konnte Jonas im trüben Kerzenschein gerade so den Titel erkennen:
Neue Ansichten von der Neuen Welt
.
Das stand über dem Bild von Andrea!, dachte Jonas aufgeregt.
»Haben
Sie
jetzt etwa ein Buch meines Vaters gestohlen?«, fragte er ungläubig. »Nachdem Sie mich angeschrien und mein Blatt ins Wasser geworfen haben, weil ich gerade mal eine Seite genommen habe?«
Das würde er Staffe nicht vergeben.
»Ich bin kein Dieb«, sagte Staffe streng. »Ich habe die Erlaubnis deines Vaters, das Buch auszuleihen, um mir das Bild von einem Kajak der Wilden anzusehen. Ich habe ihm vorgeschlagen, dass wir versuchen könnten, uns eines zu bauen, um damit auf die Jagd zu gehen.«
Jonas interessierte sich im Augenblick nicht für Kajaks.
»Ich habe deinem Vater nur nicht gesagt, dass ich auch dir das Buch zeigen werde«, fuhr Staffe fort.
Er klang so zufrieden mit sich, dass es Jonas auf die Nerven ging. Er hatte den größten Teil des Tages amPranger gekniet. Knie und Rücken taten ihm weh und jetzt, wo er darüber nachdachte, hatte er auch Magenschmerzen, wahrscheinlich vom schimmeligen Brot und dem abgestandenen Wasser. In seinem Kopf schwirrten vermeintlich gefundene Karten und aus dem Nichts aufgetauchte Flüsse durcheinander … und Freunde, die auf ihn zählten und die er im Stich lassen würde, weil er nicht verstand, was vor sich ging.
»Warum glauben Sie, dass mich das interessiert?«, fragte er mürrisch. »Warum sollte mich das Buch noch kümmern, wenn meine Lieblingsseite verschwunden ist?«
»Weil«, sagte Staffe, dessen Gesicht im Kerzenlicht leuchtete, »es hier drinnen noch ein Bild von diesem Mädchen gibt.«
Siebenundzwanzig
»Zeigen Sie her!«, sagte Jonas und wollte nach dem Buch greifen
.
Er ging davon aus, dass Staffe sich irrte. Wie genau hatte er sich das Bild von Andrea schon ansehen können, ehe er es über Bord geworfen hatte? Doch wenn es auch nur die geringste Chance gab, musste Jonas nachsehen.
Staffe zog das Buch weg.
»Nimm dich in Acht«, sagte er. »Im Umgang mit Büchern hast du dich nicht gerade als zuverlässig erwiesen. Du nimmst das Windlicht. Ich halte das Buch.«
Jonas knirschte mit den Zähnen und hielt das Licht fest, während Staffe die Seiten umblätterte.
»Ich glaube, es war hier, nein, ein paar Seiten weiter«, murmelte er. »Ja, hier ist es.«
Er hielt Jonas das Buch vor das Gesicht. Das Windlicht beleuchtete nur das halbe Blatt, daher las Jonas die Bildunterschrift, ehe er das Bild selbst sah.
»Der Tod von John White«, stand da.
Jonas schluckte.
»Ist das nicht das Mädchen?«, fragte Staffe betrübt.
»Doch, ich glaube, sie ist es, lassen Sie mich sehen«, rief Jonas und packte das Buch mit der anderen Hand.
Er hielt Buch und Licht so, dass der größte Teil des Lichtscheins auf das Bild fiel.
Es zeigte tatsächlich Andrea, die sich über einen alten weißhaarigen Mann beugte. Beide
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