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Die Gestrandeten - Im Sog der Zeiten, Bd. 4

Die Gestrandeten - Im Sog der Zeiten, Bd. 4

Titel: Die Gestrandeten - Im Sog der Zeiten, Bd. 4 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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unmöglich war, solange sein Hals im Pranger steckte.
    Wütend schaute er dorthin, wo er Katherines Gesicht gesehen hatte, obwohl dieser Bereich jetzt komplett im Dunkeln lag, da Staffe das Licht wegbewegt hatte.
    Katherine tippte Jonas auf die Schulter. Sie trat an die Stelle, die jetzt vom trüben Kerzenschimmer erhelltwurde, zeigte auf Staffe und deutete einen Stoß an. Dann zeigte sie auf ihren Mund, tat, als wollte sie sprechen, und richtete den Finger dann auf Jonas.
    Im Jahr 1600 hatte Katherine sich mächtig über Jonas aufgeregt, weil dieser ihre improvisierte Zeichensprache nicht sofort verstand. Diesmal jedoch war Jonas hundertprozentig sicher, sie zu verstehen. Was sie sagte, war:
Werde Staffe los! Ich muss mit dir reden! Jetzt sofort!
    »Äh, kann ich vielleicht später mit Ihnen über all das reden?«, wandte sich Jonas an den Seemann. »Es war wirklich nett von Ihnen, mir das Buch zu zeigen, und ich würde es mir später gern noch mal ansehen, aber   …«
    »Weißt du eigentlich, wie schwer es war, mich davonzustehlen?«, fragte Staffe ungläubig. »Ich musste wach bleiben, bis alle anderen um mich herum tief und fest schliefen. Ich   –«
    »Ich weiß!«, unterbrach ihn Jonas. »Ich will einfach nicht, dass Sie meinetwegen Schwierigkeiten bekommen! Wenn man Sie hier erwischt und bestraft   … dann würde ich mich schrecklich fühlen.«
    Staffe starrte ihn an. Jonas kam zu dem Schluss, dass er Kerzenlicht nicht ausstehen konnte. Es war gerade so hell, dass man
meinte
, etwas sehen zu können, doch ganz egal, wie sehr man sich anstrengte, man sah nie gut genug. Staffes Gesicht lag immer noch weitgehend im Dunkeln, seine Narben hatten sich in tiefe Schattenverwandelt. Jonas konnte nicht einmal ansatzweise entschlüsseln, was der Mann dachte.
    »Verstehe«, sagte Staffe schließlich. »Wie rücksichtsvoll von dir.«
    Er glaubt mir nicht
, dachte Jonas
. Er merkt, dass ich andere Absichten habe. Jetzt wird er mir überhaupt nicht mehr vertrauen.
    »Danke, dass Sie mir das Buch gezeigt haben«, sagte Jonas.
    Staffe zuckte die Schultern. Er nahm das Buch wieder an sich und ging davon.
    Sobald er fort war, wandte sich Jonas Katherine zu.
    »Wehe, wenn das nichts Wichtiges ist«, zischte er.
    »Ist es!«, flüsterte sie eindringlich zurück. »Gerade ist etwas Schreckliches passiert!«
    »So, und was?«, fragte Jonas ungeduldig.
    Sie streckte die Hand aus und stützte sich am Pranger ab, hielt sich fest, um die Wellenbewegungen auszugleichen. Oder   – Jonas betrachtete sie ein wenig genauer   – um das Zittern ihrer Glieder auszugleichen.
    »Ich habe die Augen offen gehalten, weil ich herausgefunden habe, wer den Brief oben im Krähennest hinterlassen hat«, sagte sie. »Es war Wydowse. Der uralte Mann, erinnerst du dich? Ich habe ihn noch eine Botschaft schreiben sehen.«
    »Das hört sich nicht besonders schrecklich an«, meinte Jonas, weil Katherine ihm langsam wirklichunheimlich wurde. »Es sei denn   … was stand denn in der Botschaft?«
    »Ich habe sie noch nicht gelesen«, sagte Katherine. »Weil, weil dann   …« Sie rang keuchend nach Atem, während auf ihrem Gesicht Furcht und Entsetzen um die Oberhand rangen.
    »Weil was?«, fragte Jonas. »Was ist dann passiert?«
    Katherine holte tief und verzweifelt Luft.
    »Prickett hat Wydowse umgebracht«, sagte sie.

Achtundzwanzig
    »Umgebracht?«, stieß Jonas hervor. »Er hat ihn wirklich
umgebracht
? Bist du sicher?«
    Er sah instinktiv zum Niedergang, denn wenn unter Deck gerade ein Mord stattgefunden hatte, würden sicher gleich Männer heraufgerannt kommen, um den Kapitän zu benachrichtigen. Und sicher würden irgendwelche Seeleute schreien: »Legt die Pistole hin!« oder »Legt das Schwert nieder!« oder »Nein! Bringt mich nicht auch noch um!«
    Auf dem Niedergang war es jedoch still und dunkel und, soweit Jonas feststellen konnte, völlig leer. Das Einzige, was er von unten hörte, war die Andeutung eines leisen Schnarchens.
    »Warum schreit niemand?«, fragte Jonas.
    Katherine verzog gequält das Gesicht.
    »Es weiß noch niemand, dass er tot ist, außer mir. Und Prickett.« Sie presste die Hände auf den Mund, ließ sie dann aber langsam wieder sinken. »O Jonas, ich hätte ihn aufhalten müssen. Aber das ging nicht. Ich hatte keine Ahnung, was vor sich geht, bevor es vorbei war.«
    »Erzähl es mir der Reihe nach«, sagte Jonas. Das sagte seine Mutter immer zu Katherine, wenn diese völlig aufgelöst aus der Schule nach Hause

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