Die Gestrandeten - Im Sog der Zeiten, Bd. 4
kam, weil wieder mal eine Freundin gemein zu einer anderen Freundin gewesen oder Katherine nicht zur größten Party des Jahres eingeladen worden war oder etwas in der Art. Und dann hörte Katherine gar nicht mehr auf zu erzählen.
Jonas fand, dass ein Mord es tatsächlich wert war, sie aufzufordern, der Reihe nach zu erzählen.
»Ich habe überall nach weiteren Aufzeichnungen gesucht, wie wir sie im Krähennest gefunden haben«, berichtete Katherine. »Unten waren welche in einem Schreibtisch versteckt, aber sie drehten sich nur um Dinge, die schon vor Wochen passiert sind. Irgendein Kerl namens Juet ist degradiert worden und jemand, der Bylot heißt, wurde ihm übergeordnet, und der Kapitän hat alle gegen sich aufgebracht.«
»Juet, Bylot – waren das nicht die Leute, die Prickett auf einer Eisscholle ausgesetzt hat, wie er erzählt hat? Diejenigen, die hinter der Meuterei steckten?«, fragte Jonas.
Katherine zuckte die Achseln.
»Kann sein«, sagte sie niedergeschlagen. »Was meinst du, wie viele Leute Prickett heute umgebracht hat?«
Jonas schüttelte den Kopf.
»So darfst du nicht darüber denken«, sagte er. »Erzähl weiter.«
»Ja, und während ich so dastand, ist Wydowse zum Schreibtisch gehumpelt und hat sich hingesetzt. Seine Handschrift war genau die gleiche wie in den Briefen oben im Krähennest«, berichtete Katherine weiter.
Wenn er in anderer Stimmung gewesen wäre, hätte Jonas sich zu der sarkastischen Bemerkung veranlasst gefühlt: »Sehr gut, Sherlock, was du da herausgefunden hast!«, nur um zu verhindern, dass Katherine ihr detektivisches Gespür zu Kopf stieg. Doch jetzt sagte er einfach nur behutsam: »Okay.« Nach kurzem Überlegen fügte er hinzu: »Aber du hast nicht einfach nur dagestanden und ihm über die Schulter geschaut?«
»Nein«, sagte Katherine. »In dem Moment hat oben das Gebrüll eingesetzt und ich bin hinaufgegangen. Und da stand dieser Ureinwohner und hat erzählt, dass er den Fluss noch nie gesehen hat, und dann hast du auch noch angefangen mit ihm zu reden –«
»Schon gut, schon gut, das weiß ich noch«, unterbrach sie Jonas ungeduldig.
Da weder er noch Katherine ein Windlicht oder eine Lampe bei sich hatten, konnte er um sie herum nicht das Geringste sehen. Trotzdem ließ er den Blick immer wieder über das Deck schweifen, um Ausschau zu halten – nach was eigentlich? Nach Prickett, der Wydowses Körper an Deck brachte, um ihn über Bord zu werfen? Oder nach einem anderen Schrecken oder einer Gefahr, die Jonas sich nicht einmal vorstellen konnte?
»Danach bin ich wieder nach unten gegangen, woWydowse so über seinem Brief lag.« Sie imitierte jemanden, der einen Schlaganfall oder Herzschlag erlitten hat und über einem Tisch zusammenbricht.
»Sein Gesicht und seine Arme lagen über den Blättern und das Tintenfass hatte er umgestoßen. Ich habe es wieder aufgestellt, weil ihm die Tinte in die Haare lief«, sagte Katherine. »Ich konnte sehen, dass es gerade erst passiert sein musste, weil noch nicht viel Tinte ausgelaufen war … was hättest du denn gemacht, Jonas?«
Auf diese Frage war er nicht gefasst. Was er gerade gedacht hatte, war: Boah, ich bin froh, dass Katherine mit all dem klarkommen musste und nicht ich. Am Pranger zu stehen fühlt sich dagegen nur noch halb so schlimm an.
»Ich weiß es nicht«, sagte Jonas gedehnt. »Wahrscheinlich hätte ich überlegt, wie ich für Wydowse Hilfe holen kann. Ohne mich selbst zu verraten oder den Leuten das Gefühl zu geben, dass es auf dem Schiff spukt oder so etwas.«
»Das Gleiche habe ich auch gedacht!«, sagte Katherine und knuffte ihn vor Aufregung gegen den Arm.
»Und was hast du getan?«, fragte Jonas.
»Es waren ja noch andere Leute unter Deck, sie waren nur nicht in Wydowses Nähe. Und so wie sein Schreibtisch ausgerichtet ist, hätte es Stunden dauern können, ehe jemand merkt, dass er zusammengebrochen ist«, erzählte Katherine. »Also habe ich mich direktneben ihn gestellt und ein Geräusch gemacht. Ich habe versucht mich anzuhören wie ein alter Mann, der Schmerzen hat: ›Helft mir! Ich … ächz …‹ Ich musste es drei- oder viermal machen, ehe jemand aufmerksam wurde.«
»Schlau«, gab Jonas widerwillig zu.
»Dann sind ein paar Seeleute gekommen und haben Wydowse ins Bett gesteckt – also in seine Hängematte«, sagte Katherine. »Einer hat vorgeschlagen, ihm ein bisschen Brühe zu geben, aber die anderen haben gesagt: ›Nein, wir vertun keine Brühe an
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