Die Gewandschneiderin (German Edition)
Sprung. Sie hatte ihn nicht umgebracht, es war die richtige Entscheidung gewesen.
Noch mehrmals in dieser Nacht sank der Meister in einen solch stillen Schlaf, dass die Rückkehr in diese Welt unwahrscheinlich schien, doch er wachte immer wieder auf und verlangte zu trinken. Erst als der Morgen graute, fiel er in einen gesunden Schlaf, begleitet von Schnarch- und Grunzlauten, die Anna ein ums andere Mal ein Lächeln entlockten.
„Anna! Anna!“
Das Topfgeklapper hatte sie noch überhören können, die Stimme des Meisters aber zerrte Anna über die Grenze zwischen Schlaf und Wachen. Sie streckte sich und schlug die Augen auf.
„Bring mir auf der Stelle etwas zu essen, oder willst du mich verhungern lassen?“, zeterte Meister Spierl.
Anna warf die Decke von sich und sprang auf. Die Nacht war kurz gewesen, aber sie fühlte sich frisch und ausgeruht. Es tat gut, den Alten schimpfen zu hören - es ging ihm eindeutig wieder besser.
D och er schob Brot und Käse von sich.
„Bäh ! Bring mir ein paar von den Fischen, ich brauche etwas Schmackhaftes zum Essen“, maulte er.
Anna spürte eine hei ße Zorneswelle in sich aufsteigen. Dieser alte Narr! Sie durfte nicht zulassen, dass er von den Heringen aß. Was aber, wenn sie ihn verärgerte und er sie fortschickte? Aber falls er wieder krank wurde, war ihr Traum gleichfalls ausgeträumt. Anna seufzte - sie musste Stellung beziehen.
„Nein“ , sagte sie schlicht.
„ Was nein? Du sollst mir Fische bringen!“, rief Meister Spierl.
„Wenn I hr wieder krank werdet, schlägt der Kaiser Euch den Kopf ab. Und mir gleich dazu“, drohte Anna.
Meister Spierl starrte sie mit weit aufgerissenen Augen an. Dann schluckte er, senkte den Blick und griff nach dem Brot.
Anna war froh, als der kleine Trupp endlich anhielt, um das letzte Lager der Reise aufzuschlagen. Wie erwartet war es ein heißer Tag geworden, und der Meister war so schwach gewesen, dass er sich durchgehend an Anna angelehnt hatte. Immer noch fühlte sich seine Haut heiß an, und anscheinend quoll jeder Schluck Wasser, den er getrunken hatte, sofort wieder aus den Poren hervor und nässte Annas Ärmel. Doch es war nicht nur die Nähe zu dem kranken alten Mann, die ihr zu schaffen machte. Was erwartete sie in Worms? Wenn ihre Fähigkeiten nicht ausreichten - schließlich war sie nur eine Näherin -, würde der Kaiser sie dann tatsächlich töten lassen? Anna fröstelte. Friedrich war ein Mann von großer Macht. Wenn ihm etwas missfiel, würde er diese Macht sicher gnadenlos anwenden.
Der Morgen dämmerte, als sie endlich einschlief.
Anna rieb sich die Augen. Seit sie gegen Mittag aus den Tiefen des Waldes wieder aufgetaucht waren, hatten sie die Sonne im Rücken gehabt , und die Luft über dem Fahrweg flirrte vor Helligkeit. Meister Spierl, gesund genug, um auf dem Bock zu sitzen, hatte schon einen geröteten Nacken. Sie lehnte sich zur Seite und spähte an den beiden Reisegefährten vorbei. War Worms schon zu sehen, oder narrte sie ein Trugbild? Der Knecht deutete nach vorn und schien Meister Spierl etwas zu erklären. Kein Zweifel, sie näherten sich der Stadt.
Turmspitze um Turmspitze erstreckte sich ihr Ziel über den Horizont wie die Zinken eines neuen Wollkammes. Die Abendsonne warf einen warmgold enen Webschleier über die Dächer, die wie aus Kupfer gegossen wirkten. Obgleich die Türme und Häuser so nahe schienen, dauerte es noch eine schiere Ewigkeit, bis die Stadtmauer in Sicht kam. Endlich ratterte und klapperte steinernes Pflaster unter den Rädern.
Sie hatten es geschafft. Es war der vierte Tag, dem Meister ging es gut , und sie, Anna, war in Worms, um für den Kaiser zu schneidern. Da erst merkte Anna, wie müde sie war.
Sie hatte mit allem gerechnet, nur nicht mit diesem Geruch. Seit sie nach dem Weg zum Kämmerer Heinrich gefragt hatten, waren die Ausdünstungen immer stärker geworden. Brünstig und tierhaft lagen sie wie eine schwere Decke über dem Zeltlager. Die Häuser hatten nicht ausgereicht, um alle Mitglieder des Hofes aufzunehmen, und so waren etliche der Leibeigenen, Mägde und Knechte in den Turnierzelten untergebracht, die die Wiese zu bedecken schienen wie bunte Pilze im Herbst. Ein lang gezogener, grollender Ton war zu hören und fuhr Anna durch Mark und Bein. Da, noch einmal. Anna umfasste die seitliche Ladeklappe so fest, dass ihr die Finger schmerzten, und beugte sich vor. Vielleicht wusste der Meister etwas darüber?
„...wie viele es genau sind,
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