Die Gewandschneiderin (German Edition)
war am Leben.
Der Wagen stand abfahrbereit, bis auf die Felle und Decken, auf denen der Meister lag. Anna und der Fuhrmann hatten ihn weiter ruhen lassen und alles zusammengeräumt, in der Hoffnung, dass er irgendwann aufwachte, doch er machte keinerlei Anstalten dazu. Anna wurde ungeduldig. Jeder Tag musste voll genutzt werden, nachdem sie ohnehin im Verzug waren.
„Wir müssen ihn wecken und uns schleunigst auf den Weg machen“, murmelte Anna.
Ohne eine Erwiderung abzuwarten, nahm sie den Meister bei den Schultern und rüttelte ihn sacht. Keine Antwort. Sie packte und schüttelte ihn heftiger. Nichts. Nicht einmal nach leichten Schlägen auf die Wangen öffnete er die Augen. In ihrer Verzweiflung kniff sie ihm mit aller Kraft in den Oberarm. Warum hatte er sich auch mit Heringen vollgestopft? Doch zu ihrem Erschrecken fuhr er sie nicht an - er wurde nicht einmal wach. Annas Kopf und Schultern sanken mutlos nach vorn. Er war nicht zu wecken, so wenig wie Heinz in der Hochzeitsnacht.
Der Knecht wiegte den schweren Schädel bedächtig hin und her. „Das sieht gar nicht gut aus. Wenn du mich fragst, sollten wir umkehren.“
Das durfte doch nicht wahr sein ! Sie war so weit gekommen und sollte sich alles zerstören lassen von ein paar Heringen? Sie versuchte sich zu beruhigen, so durfte sie nicht denken. Wenn sie zurückfuhr und er war wirklich schlimm krank, konnte Wiffi ihm sicher helfen. Andererseits - wenn die Nonne kein Mittel gegen sein Leiden kannte, wusste Wiffi womöglich auch keinen Rat mehr. Wenn er gesund wurde wie beim letzten Mal, würde er ihr die Hölle heiß machen, falls sie ihn nicht nach Worms, sondern nach Trier zurückbrachte. Und wenn sie mit ihm weiterfuhr? Würde er gesund, wäre er ihr dankbar. Bliebe er krank, befänden sie sich immerhin am kaiserlichen Hof. Dort gab es gewiss heilkundigere Nonnen als in dem kleinen Kloster, das Wiffi aufzusuchen pflegte. Ein Gedanke, halb verborgen im Nebel einer Ahnung, nistete sich in Annas Gedanken ein, aber sie wehrte ihn ab.
„ Wir fahren weiter. Das war seine Anweisung, und so wird es gemacht“, bestimmte sie.
Gleichmütig zuckte d er Knecht mit den Schultern. „Du musst es wissen.“ Er hob den Meister samt seinem Lager so schnell hoch, dass die Zweige flogen, und bettete ihn behutsam auf der Ladefläche des Wagens.
„Ich fahr e hinten mit“, erklärte Anna und suchte sich einen Platz zwischen den Körben.
Wie ein treuer Jagdhund zu Füßen seines Herrn kauernd, versuchte sie ihr schlechtes Gewissen zu beruhigen. Doch das Gerumpel brachte den vernebelten Gedanken von vorhin wieder ans Licht: die Frage, ob drei Tage Fahrt anstelle von einem bei dem Gerumpel und in der Hitze ihn nicht so sehr schwächten, dass ihm am Ende keiner mehr helfen konnte.
Das vorwurfsvolle Schweigen des Knechtes abends am Feuer setzte Anna nicht so zu wie die Angst um den Meister. Und dazu kam die Angst vor dem Kaiser. Was sollte sie sagen, wenn sie mit einem schwer kranken Schneider vor den Toren von Worms stand? Andererseits konnte Friedrich sich dann selbst überzeugen, dass Meister Spierl nicht aus Nachlässigkeit fernblieb. Vielleicht ging es ihm ja auch bald besser.
Sie hatte am Flu ss anhalten lassen und einen Mostkrug so hastig geleert, dass ihr schlecht geworden war. Den Krug hatte sie mit Wasser gefüllt und Streifen von ihrem Laken abgerissen. Daraus hatte sie die Wadenwickel gefertigt, von denen der Knecht erzählt hatte.
Der Tag war quälend lang gewesen. Selbst beim Umbetten auf den Boden hatte Meister Spierl kein Lebenszeichen von sich gegeben. Anna klopfte mit d em Stock, den sie seit gestern Abend ständig bei sich getragen hatte, auf den sandigen Boden und seufzte.
Der Knecht brach sein Schweigen. „Es ist nicht richtig. Der gehört nach Hause ins Bett.“
„Du weißt doch gar nicht, worum es geht!“ , rief Anna. „Er soll für den Kaiser schneidern - für den Kaiser, verstehst du? Und wenn er zu spät kommt, schlägt der ihm den Kopf ab, dann ist er auch tot.“
Ganz so stimmte es wahrscheinlich nicht, aber es tat Anna gut, den selbstgerechten Burschen erbleichen zu sehen.
„Herrgott, das konnte ich ...“, murmelte er, stützte die Ellbogen auf die Knie und faltete die Hände.
Meister Spierl stöhnte. In Windeseile erhoben sich die beiden und standen gleich darauf neben dem Lager. Er hatte die Augen geöffnet.
„Durst“ , krächzte der Kranke.
Anna lief los, um einen Krug zu beschaffen, und vor Freude tat ihr Herz einen
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