Die Gewandschneiderin (German Edition)
schwarze Hüne mit dem Speer über den Platz vor der Mauer schritt, wichen ihm die Leute respektvoll aus. Auf Anna schienen alle Eindrücke gleichzeitig einzustürmen. Lärmende Frauen mit Obstkörben, ein Mann, der einen Hund auf einem Podest den eigenen Schwanz jagen hieß, der Geruch nach Feuer und Suppe in der Luft - es war wie auf einem Festtagsmarkt. Im Haus war von alldem nichts zu hören und zu sehen gewesen. M´Ba führte sie zu den Hütten, neben denen die Tierkäfige standen. Er benutzte nicht den breiten Weg, auf dem Anna das Lager am ersten Tag betreten hatte. Dieser Weg war schmal und mit Stroh bestreut, und er führte eng an den Käfigen entlang. Von hier aus waren die Tiere deutlich näher zu sehen, als Anna lieb war. Was hatte der Wächter vor?
Anna folgte M`Ba, der nicht einmal am Käfig des Löwen stehen blieb. Sie achtete sorgsam darauf, nicht in die Reichweite der Tatzen zu kommen, die immer wieder durch die Gitter fuhren. Der Raubtiergeruch nahm ihr den Atem, aber sie fürchtete sich bei Weitem nicht so sehr wie bei ihrer ersten Begegnung mit den wilden Bestien. Anna sah sich um und beugte sich aus sicherer Entfernung zu den Käfigen hinunter. Wie das Fell der schwarzen Raubkatze glänzte, wie sauber die Käfige aussahen und wie wohlgenährt jedes einzelne Tier wirkte! Gern wäre sie länger stehen geblieben, aber M´Ba hetzte weiter, und seine Lederschlappen wirbelten so viel Staub auf, dass Anna husten musste.
Er wandte sich um und deutete mit dem Finger auf etwas vor ihnen. “Da gleich.”
Anna nickte ergeben. M`Ba trat an eine lange Reihe von Käfigen auf Stelze n heran, an deren Vorderseite je ein daumendickes Rundholz angebracht war. Auf der anderen Seite des Weges lagen keine Hütten mehr. Anna hatte einen freien Blick über die riesige Wiese, an deren Ende der Wald und die Felder begannen. Sie wandte sich den Käfigen zu. Welche Geschöpfe mochten hier eingesperrt sein, die ihre Aufmerksamkeit stärker auf sich ziehen sollten als die Löwen und der Tierwächter mit dem langen Hals?
Ein Blick in einen der großen Käfige enttäuschte sie. Nur eine Stange, ein Ast und eine Wasserschale waren darin zu sehen. Nicht einmal ein Tier.
“Anna !”, rief M´Ba.
Sie ging weiter und spähte in den Käfig, vor dem er verharrte. Ein Raubvogel, mindestens so groß wie ein Neugeborenes, saß auf einer Stange und beäugte sie misstrauisch. Die Schwingen und die Brust waren hell mit braunen Flecken, der Kopf hingegen leuchtete so weiß, dass das schwarze Auge des gedrehten Kopfes wie ein Stück Kohle daraus hervorstach. Die hornigen Krallen wirkten so spitz, dass Anna froh war, kein Kaninchen zu sein. Am gefährlichsten schien ihr der Schnabel. Lang und gebogen, sah er aus wie ein frisch geschliffenes Messer. Der Vogel stieß einen Laut aus und spreizte die Flügel von einem Käfigende zum anderen. Anna wich zurück, und M´Ba lachte.
“Groß Vogel Jagd, ja?”
Anna kicherte gezwungen. “Ja, groß.”
Was hatte M’Ba vor? Er spähte aufmerksam über die benachbarte Wiese zum Wald hinüber und beschirmte die Augen mit einer Hand. Dann nickte er, zog einen kleineren Bolzen aus einem größeren Bolzen und diesen dann aus dem Riegel des Käfigs. Er öffnete die Tür.
“Nein, nein, ich kann den Vogel auch von hier aus gut sehen!”, keuchte Anna. Das Tier mit dem scharfen Schnabel hüpfte auf krallenbewehrten Füßen zur offenen Tür und sprang mit einem Satz auf die Hand des Wächters. Der hielt Anna einen Handschuh hin. Erst wollte sie ablehnen, als sie aber sah, dass es der linke war, kam ihr das wie ein gutes Omen vor. Sie ergriff den ledernen Handschutz und streifte ihn über. Der Wächter zog ihren Arm nach vorn.
“Machen du fest!”, forderte er.
Anna streckte den Arm, wenn auch voller Unbehagen. Der Wächter schnalzte und warf den Vogel in die Luft. Wie das Rebhuhn an jenem unglückseligen Tag im Wald segelte er auf ihr Gesicht zu. Sie zuckte zusammen und kniff die Augen zu, hielt den Arm aber wie weiterhin steif in die Luft. Das überraschend schwere Tier landete auf ihrer Hand und krallte sich durch den Handschuh hindurch so fest in ihre Finger, dass sie vor Schmerz leise aufschrie. Nach und nach beruhigte sich der Jagdvogel und saß nur noch still da, den Kopf schief gelegt, und sah sie an. Sie musste zugeben, dass er wunderschön war.
M´Ba strich dem Tier mit zwei Fingern am Hals entlang, was diese s sich willig gefallen ließ, und hielt ihm die bloße Hand hin. Mit einem
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