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Die Gewandschneiderin (German Edition)

Die Gewandschneiderin (German Edition)

Titel: Die Gewandschneiderin (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Doris Niespor
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kleinen Sprung wechselte der Vogel auf M´Bas Hand und krallte sich dort fest. Der Wächter setzte den weißen Jäger wieder in den Käfig und schloss die Tür gewissenhaft erst mit dem einen, dann mit dem anderen Bolzen. Blut tropfte ihm vom Handrücken, aber er achtete nicht darauf. Anna schüttelte den Kopf. Wie unvorsichtig von ihm! Immerhin wusste sie nun einiges mehr über ihren neuen Verbündeten. Schmerzen schienen ihm nichts auszumachen, und sein Blut war nicht etwa schwarz, sondern genauso rot wie das ihre.
    Nachdem sie einen der Vögel hatte halten dürfen, betrachtete Anna die Käfige mit weitaus größerer Aufmerksamkeit. Wie schwer mochten die anderen Tiere sein? Einige wirkten kleiner, andere wiederum schienen bald doppelt so schwer zu sein. Plötzlich entdeckte sie einen besonders prächtigen Käfig. Verziert mit geschnitzten Hasen und Rehen, Hunden und Pferden, enthielt er eine helle, auffallend dicke Stange. Der Trinknapf war golden, und es gab genug Platz für drei der großen Äste, wie sie in den anderen Käfigen als Einzelstücke zum Ausruhen dienten. Anna hätte gern den dazugehörigen Vogel gesehen, aber die Behausung war leer.
    Da erhob sich h eiseres Geschrei. Anna konnte mit den Rufen und Wortfetzen nichts anfangen, aber M´Ba zuckte sichtlich zusammen und strich fahrig mit der geschundenen Hand über die Spitze seines Speeres, als wolle er prüfen, ob sie noch scharf sei.
    “Du hier. M´Ba helfen.”
    “Was? Ich …”
    Der Wächter verzog das Gesicht und ahmte mit der freien Hand eine Tatze nach. Dann brüllte er wie ein Löwe, nur leiser. Doch M’Ba schien nicht nach Späßen zumute zu sein, denn feine Schweißperlen hatten sich auf seiner Stirn gebildet, und seine Gesichtsfarbe war von tiefem Schwarz zu einem fahlen Graubraun gewechselt. Das machte Anna Angst. Sie drückte sich an das leere Vogelbauer und verschränkte die Arme vor der Brust. Der Wächter spähte abermals über die Wiese und beschirmte die Augen mit der Hand, als erwarte er, dass etwas aus dem Wald hervorpresche. Anna tat es ihm nach. Aber außer Grashalmen und dem Feldrand gab es nichts zu sehen.
    “M´Ba helfen, Jagd. Du hier. Nicht …laufen. M´Ba wieder da.” Der Wächter trat von einem Fuß auf den anderen und schien eine Antwort von ihr zu erwarten. Was meinte er bloß? Sie würde doch kaum auf dem schmalen Pfad an den Käfigen vorbei davonlaufen! Er starrte sie noch immer forschend an. Sie nickte leicht. Allmählich beschlich sie das dumpfe Gefühl, dass sie besser in der sicheren Nähstube geblieben wäre.
    Ein Frösteln kroch ihr über den Rücken. In ihrer Begeisterung für den Vogel hatte sie kaum gemerkt, wie die Zeit vergangen war. Dichte Wolken türmten sich auf und verdrängten die letzten Sonnenstrahlen. Es dämmerte bereits. Mit federnden Sprüngen war M’Ba in Richtung der aufgeregten Rufe davongeprescht. Das Hufgetrappel und Gewieher hinter ihr trafen sie völlig unvorbereitet.
    “Was zum …” Anna blieb der Ausruf im Hals stecken. Der Mann, der am Turm vorbei auf einem Rappen über die Wiese hinweg geradewegs auf sie zustürmte, war kein Geringerer als der Kaiser, gefolgt von einem Reitertrupp weit hinter ihm.
    “M´Ba!” Der Kaiser parierte durch , und das Pferd fiel erst in den Trab, dann in einen gemächlichen Schritt.
    “M´Ba?!” , rief er noch einmal.
    Und hier, mit der glühenden Abendsonne hinter seinem roten Schopf, den verwegen nach hinten geschlagenen Mantelenden und dem riesigen Falken auf der ausgestreckten Linken, schien der Kaiser plötzlich alles das zu sein, was ein Mann sein sollte.
    Anna schoss die Röte in die Wangen, als sie ihren eigenen Gedanken folgte. Was fiel ihr ein? Sie hatte es Gott gelobt, ja , geschworen, sich von Männern fernzuhalten. Sie brachte jedem Mann, mit dem sie sich abgab, den Tod. Oder, schlimmer noch, sie brachte ihn gegen sich auf, was im Fall des Kaisers auf das Gleiche hinausliefe, bloß dass es dann ihren Tod bedeuten würde. Sie schüttelte sich, als könne sie sich so von den heftigen Gefühlen befreien, die sie zu überwältigen drohten.
    “Wo steckt der Kerl?” Das Ross des Kaisers tänzelte unruhig auf der Hinterhand. Der Vogel auf seinem Arm – lichtes Grau mit dunkelgrauer Wellenzeichnung – spreizte die Flügel und krächzte ungeduldig.
    Verwirrt senkte Anna den Blick. Ihre Linke trug noch immer den Handschuh. Die Tür! Wartete der Kaiser auf M´Ba, damit er die Tür zum Käfig öffnete? Der Vogel, der prachtvolle Käfig, alles

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