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Die Gewandschneiderin (German Edition)

Die Gewandschneiderin (German Edition)

Titel: Die Gewandschneiderin (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Doris Niespor
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die bleierne Müdigkeit spürte, wurde ihr bewusst, welch aufregender Tag hinter ihr lag.
     
Sommersprossen
     
    Überall lagen Stoffhaufen, Garne, Borten und Nadeln verstreut, doch Anna störte sich nicht daran. Sie wusste ganz genau, was sie wo fände, und der Meister war nicht in der Lage zu arbeiten. Sie betrachtete ihn verstohlen von der Seite. Stumpfsinnig saß er in dem bequemen Sessel, ausgezogen bis auf das, was der Anstand verlangte, denn er war schon wieder über Gebühr erhitzt. An diesem Tag hatte er noch nichts gegessen, weil ihm das Schlucken schwerfiel. Anna seufzte leise und versuchte, ihre Gedanken nicht auf die Sorge um seinen Zustand, sondern auf das Tuch vor ihr zu lenken, denn dieses Stück Stoff verdiente alle Aufmerksamkeit, die überhaupt aufzubringen war.
    W elch wundervolles Gewebe! Weich und fließend, blau mit goldenen Fäden, ähnlich dem Farbton der Schnüre, die de Vinea gebracht hatte. Bisher hatte sie nur die passenden Garne herausgesucht und den Futterstoff vorbereitet, aber sobald es dem Meister etwas besser ging, wollten sie sich an das Zuschneiden machen.
    Alles musste vortrefflichst sein, wenn er das Gewand tragen sollte. Sie hatte lange nachgedacht, wie sie den Kaiser nach ihrer Unterhaltung an den Vogelkäfigen im Stillen nennen sollte. Kaiser Friedrich der Zweite kam ihr zu steif vor, selbst der Kaiser schien ein Titel zu sein, der bei seiner Freundlichkeit und den tastenden Fingern auf ihren blonden Haaren nicht mehr angemessen war. De Vinea hatte ihn mit Federico angeredet, doch das mutete ihr zu fremdländisch an. Bei sich einfach Friedrich zu sagen, klang ihr wiederum selbst in Gedanken zu forsch. Also umging sie die Entscheidung, indem sie ihn einfach er nannte.
    Sie hatte angeboten, allein zu schneiden, aber der Meister hatte nur müde den Kopf geschüttelt. Anna legte den Stoff auf den Tisch. Die gebündelten Schnüre, die Scheren, die Nadeln, alles war schon seit dem Morgen vorbereitet. Wann konnten sie endlich beginnen? Wieder sah sie zu ihm hinüber. Meister Spierl hatte ihre Ungeduld offenbar gespürt, denn er schlug die Augen auf.
    “Gut, dann fangen wir an …”, krächzte er mit kloßiger Stimme.
    Das Aufstehen aus dem Sessel machte ihm sichtlich Mühe, aber der Tisch war zu schwer, um ihn vor den Sitzplatz des Meisters zu schieben. Anna zog einen Stuhl mit Lehne an den Tisch, den er mit wenigen Schritten erreichen konnte. Doch auf halber Strecke strauchelte er. Sie sprang hinzu und packte ihn am schweißnassen Arm, halb schleppte und halb zog sie ihn zum Sitz. Selbst der Stuhl war keine große Hilfe. Hatten ihn im Sessel noch die Seitenlehnen gestützt, verlor er auf dem Stuhl sogleich den Halt und glitt seitlich hinunter.
    “Das muss doch zu schaffen sein!” Anna stützte Meister Spierl, bevor er auf dem Boden aufschlagen konnte, und schob ihn in eine aufrechte Haltung, doch sobald sie losließ, sackte er wieder seitlich in sich zusammen.
    “ Bin kaum zu etwas nutze, nicht wahr?”, murmelte der Alte.
    “Wenn Ihr etwas gegessen habt, Meister, fühlt Ihr Euch sicher kräftiger.” Sie schleppte ihn wieder zu seinem Sessel und hielt ihm einen Teller mit Käse und Brot hin, den sie vom Frühmahl mitgenommen hatte.
    “Nein, mir tut der Hals weh”, jammerte er. Anna kannte den Ton - wenn er so sprach, halfen weder gutes Zureden noch Betteln oder Flehen. Warum gab es hier in Worms zum Frühmahl keine Dickmilch? Die hätte er bestimmt gelöffelt.
    Sie stellte den Teller ab und stopfte ihm ein Einschlagleinen, zur Rolle geformt, neben die schmalen Hüften, damit er sicher saß.
    “Rührt Euch nicht vom Fleck, hört I hr? Ich besorge Euch etwas aus der Küche, das sich leichter schlucken lässt. Wartet hier!”
     
    Sie war schon häufiger in der Küche gewesen, und der Weg dorthin war jedes Mal weit, aber an diesem Tag schien er ihr endlos. Schließlich hatte sie die knarrenden Dielen, den Hof mit den Wachen, Lastenträgern und prachtvoll gekleideten Fürsten hinter sich gelassen und stand im Palas am Abgang zur Küche. Schon auf der obersten der ausgetretenen Steinstufen wehte ihr ein verlockender Geruch entgegen. Aus dieser Küche roch es immer köstlich, aber heute zog eindeutig der Duft von Pfannkuchen zu ihr herauf.
    Alimah, die Köchin, stand wie üblich in der Mitte an dem großen viereckigen Hackblock. Nicht nur ihr Kopfhaar war schwarz. Augenbrauen, Oberlippe, Arme, selbst die Zehen in den offenen Pantoffeln waren mit wucherndem schwarzem Flaum

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