Die Gewandschneiderin (German Edition)
war ihr der Weg zum Schneidern geebnet. Dann befeuchtete sie die Finger und löschte den Docht der Öllampe neben der Urkunde. Anna Spierl. Wer hätte das gedacht?
Schon beim Öffnen der Tür roch Anna, dass das Waschen des schmächtigen Körpers nur kurzzeitig Erfolg gebracht hatte. Das Dämmerlicht des frühen Morgens und die unverkennbaren Ausdünstungen eines Kranken drangen auf Anna ein. Auf Zehenspitzen schlich sie zum Bett. Der Gewandschneider - ihr Gatte - hatte die Augen geöffnet und umklammerte mit beiden Händen seine Weidenrute.
“Guten Morgen, Meister Spierl. Wie geht es Euch heute?”, flüsterte sie.
“Es ist wohl an der Zeit” - er hustete - , ”dass du mich Taddäus nennst. So viel Vertrautheit wollen wir uns gönnen nach unserem gelungenen Narrenspiel.” Der Meister legte die Rute aus der Hand. Schwach wirkte er, aber gut gelaunt.
“Sicher. Taddäus.” Anna lächelte und setzte sich mit d em Stuhl neben die Bettstatt.
“Du warst nicht die E rste in dieser frühen Morgenstunde”, murmelte Taddäus.
“ Wer sonst …?”
“Der Berater des Königs lässt meinem Weib ausrichten” - er zwinkerte -, “es werde um die Terz von der Wache abgeholt, um die Urkunde in Empfang zu nehmen.”
“ O mein Gott!“, rief Anna und sprang auf. Der Meister zuckte zusammen. Schuldbewusst schlug sie die Hand vor den Mund, setzte sich gesittet zurück auf den Stuhl und unterdrückte aufsteigende Freudenrufe. „Ist das wirklich wahr?”, fragte sie.
Taddäus nickte. Aufgeregt lief Anna zum Fenster und wieder zum Bett zurück. Klein war die Kammer, das war ihr vorher gar nicht aufgefallen. Am liebsten wäre sie ins Freie hinausgelaufen und vor Übermut auf der Wiese umhergetollt wie ein Füllen, aber die Pflicht rief. Sie holte Krug und Schüssel, um ihren Ehemann zu waschen. Nur noch ein wenig Geduld, und sie war am Ziel ihrer Wünsche. Dann durfte sie schneidern, so viel sie wollte, und niemand würde ihr dieses Recht streitig machen. Einige Tropfen Wasser schwappten über den Schüsselrand und netzten die Hand des Meisters.
“Entschuldigt, Meister Spierl …”
“Taddäus!” , unterbrach er sie.
“Taddäus . Es ist nur so … nun, da alles geklärt ist …”
Der Alte legte Anna seine fieberheiße Hand auf die kalten Finger.
“Du hast Angst, nicht wahr?”
Sie nickte. “Was , wenn ich nicht gut genug bin? Wenn keiner mir Aufträge erteilt? Ich kenne kaum einen Eurer Kunden, und ich bin nicht zeitgemäß, das habt Ihr selbst gesagt.” Anna ließ den Kopf sinken.
“Ach , Kind, deine Zweifel zeigen mir, dass ich die richtige Wahl getroffen habe. Du wirst das alles ganz wunderbar meistern. Außerdem gibt es die Bücher in der Kammer. Lass sie Dietrich nicht in die Hände fallen! Gewiss wird er versuchen, wieder in Lohn und Brot zu kommen. Lass dich”- er hustete – “bloß auf nichts ein. Erteil ihm weiter Hausverbot, hörst du?”
Je dringlicher er es machte, um so matter klang er. Anna beeilte sich zu nicken. “Ich versprech´s”, flüsterte sie. Erst als Taddäus ihr zittrig über die feuchte Wange strich, merkte Anna, dass sie weinte.
“Was ist denn das, Tränen? Hat meinem Weib die Hochzeitsnacht nicht gefallen?” Er deutete auf seine ausgezehrten Arme. “Gewiss, ich bin ein stattlicher Kerl! Du bist sicher enttäuscht, dass du nicht länger bei mir im Bett liegen durftest, richtig?”
W ider Willen musste Anna lachen. “Schlimmer - die Bücher nutzen mir nichts. Ich … ich kann nicht lesen.”
“Oh.”
“Ich wollte es als Kind lernen, aber …”
“Nicht so schlimm. Jan kann lesen. Er wird es dir beibringen, wenn du ihn darum bittest.”
Jan. Das wäre möglich. Anna atmete auf. Mithilfe der Bücher konnte sie feststellen, wer was bevorzugte. Das war beinahe so, als ob sie die Kunden selbst kannte.
Unruhig blickte Anna zur Tür. Wäre es nach ihr gegangen, hätte die Wache kommen können.
“ Man wird dich rechtzeitig holen, ruh dich aus.” Spierl schloss die Augen.
Der Meister sah eher aus, als könne er etwas Ruhe gebrauchen, aber Anna hatte noch eine Frage auf dem Herzen. “Taddäus?”
“Hm?”
“Warum habt Ihr zugestimmt, mich zu heiraten?”
“Damit Wiffi versorgt ist. Dietrich hätte sie aus dem Haus geworfen, und bei Jan hätte er die älteren Rechte geltend gemacht und ihn hinausgedrängt. Bei dir bin ich mir sicher, dass Wiffi bestens versorgt ist, bis … bis sie auch … du weißt schon.”
Anna nickte. “Bei mir wird sie es gut
Weitere Kostenlose Bücher