Die Gewandschneiderin (German Edition)
anderswo Rat holen. Doch in welch heikle Lage hatten die Anweisungen des Gewandschneiders sie beim letzten Mal gebracht! Friedrich hatte den Schnitt gehasst, und gepasst hatte das Gewand auch nicht. Außerdem war sie durch den Edelmut des Kaisers inzwischen selbst Meisterin. Sie war ihre eigene Ratgeberin!
Anna streckte Arme und Rücken, stand wieder auf und schnitt entschlossen in den Stoff.
Es klopfte an der Tür. Ihr Blick fiel auf das kleine Fenster. Wieso war die Sonne schon so weit herumgewandert? Der silberdurchwirkte Stoff hatte sie so sehr in Bann gezogen, dass sie alles ringsum vergessen hatte.
“M´Ba, was suchst du in der Nähstube?”
Die strahlend weißen Zähne des Wächters leuchteten wie Silberfäden in schwarzem Stoff. Die Rose, die er ihr entgegenhielt, verströmte einen süßen Duft.
“ Gute Botschaft. Kaiser sagen, du baden.”
In aufrechter Haltung blieb d er Wächter stehen, als erwarte er ein Lob oder eine Belohnung. Anna nahm die Blume, schnupperte und hob die Schultern. “Was meinst du damit?
M´Ba schlug sich die flache Hand vor die Stirn. “Du erste Mal baden - du nicht wissen?” Er lächelte, diesmal anders als sonst. Hätte Anna nicht gewusst, wie sehr M´Ba seine beleibte Frau verehrte, hätte sie das Lächeln als anzüglich empfunden; so war sie einfach nur verwirrt.
“Du baden in Frauen stube, Kaiser kommen und dann …” Er machte eine Bewegung mit beiden Händen, die nun wirklich keinen Zweifel ließ. Anna durchfuhr ein heißer Schauer, sie ballte die Fäuste.
“Was fällt dir ein? Hinaus !”, schrie sie. “Hinaus!”
Sie drängte den Wächter über die Schwelle, schlug die Tür hinter ihm zu, dass der Rahmen ächzte, und stapfte zum Fenster. Was bildete er sich eigentlich ein? Dass er sie mit der Urkunde gekauft hatte? Selbstlose Hilfe. Wie hatte sie nur so einfältig sein können? Ziellos wanderte sie in der Kammer auf und ab, stieß an die Tischkante, schimpfte vor sich hin und fegte die zugeschnittenen Stoffteile vom Tisch. Erst das teure Tuch auf dem Boden brachte sie zur Besinnung. Hastig hob sie Teil um Teil auf, blies und klopfte den Staub weg und ordnete alles neu zum Heften. Dann setzte sie sich und schlug die Hände vors Gesicht.
Anna hatte die Hand schon auf der Klinke zu Meister Spierls Kammer.
Sie war durch die Flure gehetzt, die Handflächen aneinandergepresst, die Schultern hochgezogen, als wäre sie in größter Eile, damit sie nur niemand ansprach. Dabei hatte sie insgeheim gehofft, dass man sie anhielt und nach ihrem Kummer fragte. Anna gab die Klinke zögernd wieder frei. Der Meister war vom Leichenbestatter abgeholt worden, das wusste sie doch. Wollte sie in einer leeren Kammer sitzen und sich mit den Wänden unterhalten? Alimah war nicht in der Küche, M´Ba schien nicht das Geringste zu verstehen, und Zahmeena wäre die Letzte gewesen, mit der Anna ihre Sorgen hätte teilen wollen – zumal de Vineas Freundin kein Wort verstand. Sie war allein.
Wie so oft in den letzten Stunden zog sie das Tuch aus dem Ärmel, ihr Unterpfand für den jungen Hund. Es roch inzwischen beinahe stärker nach ihr als nach ihm. Anna hielt es sich noch einmal vor die Nase und atmete tief ein, dann hatte sie sich entschieden. Sie würde das Pfand einlösen und den Hund abholen, auf der Stelle.
Die Nachmittagssonne tüpfelte das sattgrüne Waldstück mit goldenen Punkten. Der Pfad am Bachlauf entlang führte geradewegs zum Stall, und Anna trat ohne Zögern ein. Die Hundehütte war leer. Fünf der sieben Jungen lagen auf der sauberen Einschütte und schliefen.
Das sechste Hündchen tatzte nach kleinen Halmen, nur eines der Tiere saß aufrecht, die Augen zur Tür gerichtet, und schien auf etwas zu warten. Anna erkannte es sofort an dem honigfarbenen Kopf und dem Rückenfleck. Es war der Welpe, den sie ausgewählt hatte. Falke, sie würde ihn Falke nennen. Eine Hand über der Abtrennung, sprach sie ihn leise mit dem neuen Namen an, und er schlich auf sie zu. Falke beschnupperte ihre Finger und leckte daran. Anna nahm ihn auf den Arm und strich über das weiche Fell, kraulte die winzigen Ohren. Der Hund drückte sich eng an ihren Körper und zitterte ein wenig. Zum ersten Mal an diesem seltsamen Tag schien Frieden in Annas Herz einzuziehen.
“Was fällt dir ein? Hinaus mit dir! Ich rufe die Wachen!“, brüllte eine tiefe Stimme.
Anna zuckte zusammen und fuhr herum. Der vierschrötige Mann füllte den Türrahmen beinahe aus, sein Gesicht lag im
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