Die Gewandschneiderin (German Edition)
Kammer in Augenschein zu nehmen. Da gab es Leuchter aus Metall, in denen honigduftende Wachskerzen steckten, wärmende Decken und sogar weiche Kissen mit genähtem Rand. Und mit ihrem neuen blauen Kleid hatte sie das Gefühl, durchaus in diese edle Umgebung zu passen.
“Ach , herrje!”, entfuhr es ihr plötzlich, als ihr der Hund wieder einfiel - sicher war Bär noch immer an der Stalltür angebunden. Sollte sie auf Heinz warten oder den Weg zum Hof selbst finden? Nach kurzem Zögern machte sie sich auf die Suche nach dem Ausgang.
Kaum hatte sich die schwere Tür hinter ihr geschlossen, als ihr Zweifel kamen. Der Flur war lang, und zu beiden Seiten gingen Türen ab. Was, wenn sie nicht mehr zurückfand? Aufmerksam betrachtete sie die beiden Türen, die ihrer Kammer gegenüberlagen.
Wie alle anderen waren sie p aarweise angeordnet und durch eine tiefe Nische voneinander getrennt. Eine zeigte Blumen, die andere geschnitzte Ovale. Und ihre eigene Tür? Pferde! Und neben der Nische Schafe. Erleichtert strich sie über das Holz. Ihr Zimmer würde sie jedenfalls wiederfinden.
Tödlicher Hass
Das Haus war noch größer, als sie vermutet hatte. Schon wieder eine Abzweigung, und sie hatte die Stufen in das Untergeschoss noch immer nicht gefunden. Sinnend blieb Anna einen Augenblick lang stehen, da hörte sie Stimmen.
“ …dulde ich nicht!” Eine Frauenstimme - freundlich klang sie nicht.
“ Wenn du Anna erst einmal kennengelernt hast, magst du sie bestimmt.”
Heinz ’ Stimme! Und er sprach offenbar mit seiner Mutter. Anna war hin- und hergerissen. Natürlich wollte sie nicht lauschen, aber sie hatte ihren Namen gehört. Musste sie da nicht in Erfahrung bringen, worum es ging? Sie näherte sich der Tür, hinter der gesprochen wurde.
“Sie ist eine Näherin ! Von diesen Weibern habe ich schon viele um dich herumschleichen sehen.”
“Mutter, sie ist nicht so. Ich habe sie angesprochen. Anna stammt aus gutem Haus, eine geborene von Münster, und wie sie sich mit Stoffen auskennt! Sie hat ein Händchen dafür. Du hättest sehen sollen, wie sie die besten Tuche für das Kloster ausgesucht hat …” Heinz verteidigte sie! Annas Wangen glühten.
“Umso schlimmer ! Du bringst nicht nur die minderwertigeren Stoffe mit nach Hause zurück, sondern schleppst auch eine Fremde ohne Mitgift, ohne Bildung an. Sie kann nicht einmal lesen, geschweige denn Rechnungen schreiben. Was willst du mit so einer?” Die Frauenstimme wurde immer schriller, Heinz klang beschwichtigend.
“Sie kann uns im Geschäft von großer Hilfe sein, Stoffe aussuchen, Näherinnen beaufsichtigen …”
“ Oh, dann brauchst du mich also nicht mehr.” Der harsche Ton schlug in ein mitleiderregendes Gejammer um.
“Mutter, sag so etwas nicht! Ich weiß, was ich dir zu verdanken habe.” Stille. Anna wagte kaum zu atmen.
“Hm. Und was ist mit Helene?” , fragte die alte Frau.
Heinz antwortete nicht. Wer war Helene? Erst als Anna es kaum noch aushielt, sprach er weiter, wenn auch so leise, dass sie ihn nur mit Mühe verstand.
“Wir sind nicht versprochen, nicht fest.”
“Aber beinah e!” Die Stimme von Heinz’ Mutter klang wieder laut und aufgebracht. „Es war doch längst vorgesehen, dass du Helene heiratest. Soll ich dir die Vorteile dieser Verbindung noch einmal aufzählen?”
“Nein. Aber Helene ist kränklich. Und dürr. Ich brauche eine Frau mit breiten Hüften, die mir Söhne schenkt. Und ich will Anna.”
Tränen traten Anna in die Augen. Wie schön er das sagte!
“Du verliebter Narr! Sie hat dich verhext …”
Anna zuckte zusammen.
“… und du bist nicht recht bei Sinnen. Ich erlaube es einfach nicht. Du heiratest Helene, und dabei bleibt es”, zeterte sie.
Es polterte. War ein Stuhl umgestoßen worden?
“Nein, Mutter. Ich sage es nicht gern, aber ich bin der Herr im Haus. Ich heirate Anna.”
Schwere Schritte näherten sich der Tür, und Anna wollte schon flüchten, da drangen seltsame Laute an ihr Ohr. Ein Keuchen und Röcheln wie von einem Ochsen vor dem Pflug.
“Ich komme nicht zu Atem, ich darf mich nicht so aufregen.” Keuchen. “Bleib, ich will nicht allein sein.” Geröchel.
“Nein , Mutter. Diesmal nicht, meine Entscheidung ist unumstößlich. Ich schicke dir Fanny.”
Als wieder Schritte zu hören waren, flüchtete Anna um die Ecke. Sie raffte die Röcke und eilte so leise wie möglich durch die Gänge. Wo war ihre Kammer? Vögel, Hirsche, ein Bach - da, endlich, die Pferde! Anna warf
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