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Die Giftmeisterin

Titel: Die Giftmeisterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eric Walz
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Ansprüche an die Gläubigen zu stellen als im Lateran oder in den Kirchen von Pavia und Poitiers, weshalb ich, je geräumiger ein Gotteshaus ist, es umso erdrückender empfinde, und je mehr Reliquien dort beherbergt sind, desto ferner rücken mir die Heiligen. In der Aachener Pfalzkapelle waren mir Gott und seine Schar ganz nah.
    In jener Nacht schrie der Herr mich an. Ich war allein mit ihm in der Dunkelheit, eine einzelne Kerze brannte auf dem Altar, und als ich niederkniete und die Hände faltete, zuckte ich vor Schreck zusammen, weil ein großer Schmerz durch mich ging. Diese Schmerzen und Gottes Schreie waren gleichsam Phänomene, die nicht mit den herkömmlichen Sinnen zu erfassen sind. Sie sind nicht körperlicher Natur. Was ich in der Finsternis sah, was sich mir näherte, das waren die Augen des Kindes, in die ich kurz zuvor geblickt hatte, und ihre Blicke drangen in mich ein und stachen mich. Ich konnte ihnen nicht ausweichen, und ich wollte es auch nicht. Ich wollte gepeinigt werden.

    Gott tat sein Bestes, um mich zu quälen. Ich kann mich nicht beklagen. Aber genügte das? Er zeigte mir das kleine Kind, das ich mutterlos zu machen beabsichtigte, er gab mir einen Vorgeschmack auf die Hölle, nahm mir die Süße der Rache... Was er mir nicht nahm, war die Furcht vor meiner Zukunft als Verstoßene, Einsame, Gedemütigte. Es gelang ihm, mich in Schrecken zu versetzen, so als rüttele er an der Hängebrücke, in deren Mitte ich mich befand, doch weder brachte er mich dazu umzukehren, noch stürzte ich ab. Ich blieb schwankend über dem Abgrund, wo ich mich halb in Todesangst und halb im Trotz an dem Wenigen festklammerte, dessen ich mir noch gewiss war. Nicht ich hatte mich an diesen Punkt gebracht, an dem ich mich befand. Ich war dorthin getrieben worden, und Gott hatte seinen Anteil daran.
    Â 
    In der Finsternis hat die Zeit keine Stunden. Wie lange flehte ich leise? Ich bat die Mutter Maria um Beistand, sagte die Gebete wieder und wieder auf, doch ich fand keine Ruhe und keine Orientierung. In der Kälte der Kapelle erstarrten mir die nach Hilfe suchenden Hände, und beinahe brach ich erschöpft auf den Fliesen zusammen.
    Â 
    Die Flamme der Kerze flackerte wild. Was ich zunächst für eine Sinnestäuschung hielt, stellte sich mir im nächsten Moment als Folge eines Luftzugs dar, der auch meinen Nacken streifte. Außer mir befand sich von da an noch jemand in der Kapelle.

37
    IN DER FAST vollkommenen Dunkelheit in der Kapelle bewegte ich mich nicht. Mein Atem ging schnell und leise. Da ich keine Gestalt erkennen konnte, nahm ich an, ebenfalls nicht erkannt zu werden. Ich trug einen dunklen Mantel über meinem Gewand, das diffuse Kerzenlicht reichte kaum bis zu mir, und das steingraue Mauerwerk tat ein Übriges.
    Zunächst dachte ich mir nichts dabei - wieso sollte ich die Einzige sein, die das Gespräch mit Gott suchte, zumal am Tag vor der Ankunft des Heiligen Vaters? Dann jedoch hörte ich Geflüster, das nicht von einer Person stammte, sondern von zwei Personen, die sich miteinander unterhielten. Ich versuchte zu verstehen, was sie sagten - da ich mich in einem allgemein zugänglichen Gebäude befand, schämte ich mich nicht zu lauschen, und außerdem war ich als Erste dort gewesen -, doch sie sprachen zu leise. Immerhin merkte ich, dass ihr Wortwechsel schneller und missfällig wurde. Schließlich meinte ich in dem Gewisper eine weibliche und eine männliche Stimme zu erkennen, die sich stritten.
    Ich erhob mich so langsam, wie es mir möglich war. Das leise Rascheln meines Gewands kam mir laut wie eine Reitertruppe vor, doch ich vertraute darauf, dass es von der angeregten Unterhaltung übertönt wurde. In kleinen Schritten näherte ich mich ihnen, ohne das Geringste zu sehen.
Glücklicherweise war die Kapelle frei von Hindernissen, ausgenommen die Mittelreihe von Pfeilern, nach denen ich mit ausgestreckten Armen tastete.
    Als ich an einem Pfeiler angekommen und höchstens sechs Schritte von dem Pärchen entfernt war, schwieg es plötzlich. Ich atmete flach. Zwar vernahm ich leise Geräusche, doch ich konnte sie nicht zuordnen. Kamen die beiden auf mich zu? Nein, was ich da hörte, war ein Kuss, es waren viele Küsse - die Versöhnung nach dem Streit.
    Ich entspannte mich und lächelte. Ein Liebespaar. Da es sich heimlich traf, handelte es sich um eine verbotene Liebe. Welcher Art?

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