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Die Giftmeisterin

Titel: Die Giftmeisterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eric Walz
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verstehe.«
    Â»Wirklich?«
    Ich sah ihn lange an. »Ja. Wirklich.«
    Er lächelte zum ersten Mal an diesem Vormittag.
    Â»Gerold, würdet Ihr mich jetzt bitte allein lassen? Ich möchte ein wenig ruhen.«
    Eine vierundzwanzig Jahre alte Erinnerung: während der Sachsenkriege.
    Ich sitze in einem mit Tierhäuten überspannten Wagen und blicke in den Regen, der seit Tagen nicht nachlässt. Das Gelände, auf dem wir lagern, ist verschlammt, und alle Knochen tun mir weh, weil ich wegen des Wetters den Wagen kaum verlasse. Eine Lage Stroh ist mein Bett für die Nacht, ein niedriges Bänkchen ist mein Stuhl für den Tag. Ich nähe Kleider für Arnulf,
von früh bis spät. Einmal am Tag kommt Berta, der es nicht besser geht, von ihrem Wagen zu meinem Wagen gehuscht, und wir unterhalten uns eine Weile, obwohl wir jeden Tag nur ein Thema haben: Wie geht es wohl unseren Männern? Sie sind vor drei Tagen gegen die Eresburg vorgerückt, ein Bollwerk der Sachsen, das auf einem Tafelberg aufragt. Wären Dunst und Regen nicht, könnten wir die Burg sehen und wenigstens von ferne an dem teilnehmen, was dort geschieht - was immer es sein mag. Haben unsere Männer die Burg bereits gestürmt? Oder lagern sie noch in den Wäldern am Fuße des Berges, weil der Boden zu rutschig ist? Befinden sie sich auf dem Rückzug? Wurden sie gar zurückgeschlagen? Hat es Verluste gegeben? Lebt mein Gemahl noch?
    Die Ungewissheit macht das Herumsitzen in den engen Wagen noch unerträglicher. Und immer wieder sagt man sich selbst und im Gespräch dasselbe: Unsere Männer sind jung und stark, sie sind erfahren, sie haben hervorragende Rüstungen, der König ist ein kluger Anführer, Gott steht auf unserer Seite. Andererseits sind die Feinde heidnische Barbaren. Sie sind von ungeheuerlicher Unbarmherzigkeit, sie wissen um die herausragende Bedeutung der Eresburg, und sie sinnen auf Rache dafür, dass Karl vor drei Jahren ihre Irminsul zerstört hat, eine riesige Holzsäule, die den Weltenbaum und damit ihre religiöse und säkulare Ordnung symbolisierte. Seither kämpfen sie mit furchteinflößender Verbissenheit, die an Wahnsinn grenzt.
    Niemand stellt die Taten des gesalbten Königs in Frage, auch ich nicht. Alles geschieht im Dienste Christi, dem falsche Götter ein Gräuel sind, und im Dienste des Gedankens, die Völker Europas zu vereinen. Und doch
wäre ich gerne woanders. In Enge und Regen träume ich von den guten Tagen in Quierzy, von rheinischer Sonne, von einem Kohlefeuer, und als der Lakai mir die Rübensuppe bringt, die wir seit einer Woche morgens und abends essen, träume ich außerdem noch von einem saftigen Burgunderhuhn.
    Aber vor allem fehlt mir Arnulf. Ich würde freiwillig ein Jahr lang in einem Wagen leben, wenn ich wüsste, dass Arnulf unversehrt zurückkommt. Er ist noch jung und gehört schon zu den Getreuesten des Königs. Sein derzeitiger Rang - zweiter Führer einer Scara, einer Schwadron, der schweren Reiterei-wurde teuer erkauft. Arnulf befindet sich am Rand des Ruins, weil er jahrelang etliche Helme, Schuppenpanzer, Beinschienen, Rösser, Schwerter, Schilde und Lanzen erworben hat, für die er üblicherweise selbst aufkommen musste, und weil er nach dem Tod seines begüterten Vaters, dessen zweiter Sohn er war, mit beinahe leeren Händen dasteht. Er ist darauf angewiesen, schon bald mit einer Pfründe oder einem großen Hofgut bedacht zu werden, und deswegen, so weiß und fürchte ich, wird er sich mit noch größerer Inbrunst in den Kampf werfen als bisher. Die Zukunft gehört ihm, so versichert mir Arnulf stets und meint damit, dass so viele gute Leute des Königs in den Kriegen fallen und die Auswahl an Marschällen, Konnetablen, Grafen und so weiter immer geringer wird, was früher oder später zwangsläufig seinen Aufstieg nach sich ziehen wird. Dass er selbst womöglich zu jenen guten Leuten des Königs gehören wird, die fallen, scheint ihm dabei zu entgehen. Er ist so zuversichtlich, und ich bin so ängstlich. Ich bin wie all die anderen ängstlichen Frauen des Trosses.

    Am Abend des vierten Tages, es ist schon fast dunkel, hören wir schweres Hufgetrampel von ferne nahen. Trotz des Regens steigen wir aus den Wagen, und die Wachen formieren sich, falls Sachsen unseren Tross angreifen wollen. Dämmerung und Nebel verhindern, dass wir etwas sehen.

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