Die Gilde der Diebe
wieder kriegt, dann werde ich meine Stelle bei Vendetta nicht zurückbekommen. Meine Familie ist von mir abhängig. Also, entweder gehen wir zusammen zurück oder ich gehe alleine. Es kommt ganz auf dich an.«
Er hätte liebend gerne ein weiteres Argument angeführt oder irgendeine Möglichkeit gefunden, sie aufzuhalten, aber Jonathan wusste, dass das falsch gewesen wäre. Es war das Gleiche wie bei seinem Vater. Obwohl Alain wusste, dass Jonathan ein großes Risiko einging, traute er ihm zu, im richtigen Moment die richtige Entscheidung zu treffen. Das war einer der Gründe, warum er ihn so sehr liebte.
»Dann komm«, sagte er schließlich. »Wir haben keine Zeit, uns zu streiten.«
Raquella lächelte und vollführte einen Knicks.
»Wie Ihr wünscht. Und fürchtet Euch nicht, wenn Ihr in Schwierigkeiten geratet, werde ich Euch retten.«
Trotz allem mussten sie beide lachen.
Zwei Stunden später standen sie wieder inmitten des mörderischen Trubels auf der Hauptstraße vor »Kinskis makaberem Theater«. Das fahle, diesige Tageslichthatte dem Theater jeglichen Glanz und Gloria genommen, dessen es sich vermutlich nachts erfreute. Es betonte die schmutzverkrusteten Fenster, das Fehlen des Türmchens auf dem Dach und die vom Wind zerzausten Plakate an den Wänden. Es würde noch Stunden dauern, bis das Theater öffnete und der erste Akt des Abends auf die Bühne schlich. Die Eingangstüren waren mit einem schweren Vorhängeschloss verschlossen. Auf der obersten Stufe stand eine gelbliche Lache. Die Wolken zogen zu und Jonathan spürte den ersten warmen Regentropfen in seinem Nacken. Er drehte sich um und blickte Raquella in die Augen.
»Bist du dir sicher, dass du mitkommen willst?«
Raquella nickte.
»Ich habe es bis hierher geschafft.«
Nach allem, was sie durchgemacht hatte, war Jonathan erstaunt, dass sie überhaupt so weit gekommen war. Er hatte sie zu einem Übergang gebracht, den ihm Carnegie einmal gezeigt hatte. Sie hatten eine wilde Reise quer durch Hampstead Heath hinter sich. Das Dienstmädchen war mit stoischer Ruhe, schweigend und mit bleichem Gesicht durch Dornengestrüpp und Heckengewächse gestapft. Lediglich in dem Moment, als sie den Übergang durchquerten und die faulige Luft Darksides auf sie einströmte, entfuhr ihr ein leises Stöhnen. Jonathan hingegen hatte in letzter Zeit so oft die Seiten gewechselt, dass ihm die Luftveränderung kaum aufgefallen war. Er wusste seine gemischte Abstammung und das Darkside-Blut, das durch seine Adern floss, immer mehr zu schätzen.
Obwohl der Übergang in Hampstead schnell und leicht zu erreichen war, hatte die Anwesenheit einer Darksider Diebesbande auf der anderen Seite Jonathan davon abgehalten, ihn nochmals zu benutzen.
Diesmal baute er auf das Überraschungsmoment und dankte still dem Himmel, als er sah, dass die Bande sich um ein Lagerfeuer versammelt hatte und einen anderen Reisenden piesackte, der unvorsichtig genug gewesen war, ihr Gebiet zu betreten. Raquella und er schlichen leise durch das Unterholz an ihnen vorbei. Ihr hämisches Gelächter und der Geruch von Schnaps und Schweiß drangen zu ihnen herüber. Dagegen fühlten sie sich angesichts des aggressiv hektischen Treibens auf der Hauptstraße geradezu erleichtert.
Jonathan suchte mit seinen Augen das Theater ab.
»Glaubst du, dass er jetzt da drinnen ist?«
»Wer, Mountebank?« Raquella runzelte die Stirn. »Vielleicht. Hoffe ich zumindest. Wenn nicht, stecken wir in Schwierigkeiten, oder? Was ist mit dem Rest der Gilde? Meinst du, sie schaffen es noch rechtzeitig?«
Jonathan zuckte mit den Schultern.
»Weiß nicht. Ich habe Dad gebeten, zur Baker Street zu gehen und ihnen zu sagen, dass wir hier sind. Kommt darauf an, wie schnell sie einen Übergang finden. Bis dahin sind wir auf uns allein gestellt.«
Schweigend standen sie da und wurden von den vorbeilaufenden Passanten angerempelt. Keiner von ihnen machte Anstalten, hineinzugehen. Jonathan wünschte sich im Stillen, dass Carnegie bei ihnen wäre. Oder wenigstens Correlli. Er stellte sich vor, wie der Wermenschihm einen genervten Blick zuwerfen und ihn mit seiner gewaltigen haarigen Pranke vorwärtsschieben würde. Wir haben nicht den ganzen Tag Zeit, Junge …
Jonathan atmete tief durch.
»Nun, die Vordertür mag verschlossen sein, aber das ist ja schließlich nicht Xaviers Anwesen. Ich wette, dass wir hintenrum irgendwo reinkommen. Lass uns also gehen.«
Er führte Raquella eine schmale Gasse entlang und achtete darauf,
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