Die Gilde von Shandar: Die Spionin
allmählich die Kniffe beigebracht, die so manchem Erwachsenen schwerfielen.
Als kleiner Junge hatte Reynik seinem Vater und seinem Onkel zugehört, wenn sie sich über Taktik und Militärstrategie unterhielten. Dachte er jetzt an diese Diskussionen zurück, war es leicht zu verstehen, warum sich die Perspektive eines Offiziers von der eines durchschnittlichen Soldaten unterscheiden musste. Wäre sein Onkel nicht vor etwas mehr als zwei Jahren getötet worden, dann hätte er solchen Gesprächen jetzt sogar noch lieber gelauscht.
Die Erinnerung an den Mord an seinem Onkel ließ kurzfristig Zorn in seinen Eingeweiden aufsteigen. Er war dabei gewesen, als es geschehen war. Sein Onkel hatte keine Chance gehabt. Es hatte keine Vorwarnung, kein erkennbares Motiv und keine Provokation gegeben, die einen so kaltblütigen Mord gerechtfertigt hätte. Einen Moment hatten Reynik, sein Cousin und sein Onkel auf der Straße ein Spiel gespielt, dann war wie aus dem Nichts ein Fremder erschienen, hatte Reyniks Onkel ein Messer in die Brust gestoßen und war in eine nahe Gasse geflüchtet.
Reynik hatte nur einen flüchtigen Blick auf das Gesicht des Mörders werfen können. Doch er wusste, dass er es nie vergessen würde. Er hatte den Mann in die Gasse verfolgt, doch schon nach ein paar Schritten angehalten. Die Hilferufe seines Cousins hatten ihn zögern lassen. Zurückblickend konnte er sagen, dass es die richtige Entscheidung gewesen war, seinem verzweifelten Cousin beizustehen. Hätte er den Mörder weiter verfolgt, wäre es fraglich gewesen, ob Reynik eine Begegnung mit ihm überlebt hätte.
Sein Vater vermutete, dass es höchstwahrscheinlich ein Auftragsmörder gewesen war. Daher war es nicht überraschend, dass ihn die Behörden nie gefasst hatten. Noch heute schaute sich Reynik alle Menschen genau an, die ihm begegneten, in der Hoffnung, den Mörder zu entdecken und der Gerechtigkeit überantworten zu können.
»Auf, Männer! Bewegung!«
Die kräftige Stimme des zweiten Kolonnenführers unterbrach Reyniks Gedankengang. Auch die anderen standen auf und nahmen am Fußende ihres Bettes Haltung an.
»Zeremonialkleidung. Inspektion. Draußen. SOFORT! Beim nächsten Signal marschieren wir zum Palast, Männer. Also beeilt euch. Wir haben nicht den ganzen Tag Zeit!«
KAPITEL ZWEI
»Wer ist das ?«, stieß Lord Danar leise und verschwörerisch hervor.
Die kleine Gruppe junger Edelleute um ihn herum folgte seinem Blick unauffällig und sah eine attraktive junge Frau in einem königlichen tiefroten Kleid vorbeigehen. Einer der Männer hüstelte leicht.
»Eine amüsante Partnerin für Euch, Danar. Lady Alyssa hat einen sehr interessanten Ruf.«
»Interessant? Inwiefern, Sharyll? Sag schon, Mann – ich habe noch nie von Lady Alyssa gehört und sie noch nie hier bei Hofe gesehen.«
»Vielleicht ist sie Euch absichtlich aus dem Weg gegangen, Danar. Was Frauen angeht, habt Ihr den Ruf eines Raubtieres«, lachte einer der anderen leise.
»Das bezweifle ich«, widersprach Sharyll kopfschüttelnd. »Lady Alyssa ist nur selten in Shandrim. Gelegentlich nimmt sie für ein oder zwei Wochen an formellen Anlässen und privaten Feiern teil, dann wieder sieht man sie monatelang überhaupt nicht. Und wenn sie das nächste Mal auftaucht, ist es, als sei sie nie weg gewesen. Wohin sie geht und wie sie sich so gut auf dem Laufenden hält, was den Klatsch am Hof angeht, weiß kein Mensch. Sie ist einfach ein Rätsel.«
»Oh, solche Herausforderungen liebe ich«, murmelte Danar, der Alyssa immer noch mit den Augen durch die große Halle folgte.
»Na, das hätte ich nicht gedacht, wenn man bedenkt, mit was für jungen Damen Ihr Euch in letzter Zeit abgegeben habt. Eure letzte Eroberung könnt Ihr kaum als Herausforderung ansehen, oder? Die Dame war ja schon völlig hingerissen, sobald Ihr das erste Anzeichen von Interesse an ihr bekundet habt.« Sharylls Augen blitzten amüsiert, als er Danars intensiven Blick bemerkte. »Lady Alyssa ist etwas völlig anderes als Eure übliche Beute. Man könnte sagen, dass ihr Mangel an Beziehungen sie einzigartig macht – sie ist schwer einzufangen. Man sagt, sie sei die einzige Tochter eines reichen Kaufmanns aus einer der Küstenstädte, auch wenn ich nie herausfinden konnte, aus welcher Stadt genau sie stammt. Sie wirft mit Geld um sich, aber ihre Launen sind kapriziös und sie scheut schon vor dem leisesten Anzeichen einer Romanze zurück. Da könntet Ihr ebenso gut versuchen, den Morgennebel
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