Die Gilde von Shandar: Die Spionin
Make-up und elegante Kleidung veränderten Femkes Aussehen so drastisch, dass sie niemand erkannt hätte, der sie nicht sehr gut kannte. Ein sorgfältig einstudierter überheblicher Gesichtsausdruck und eine herablassende Art vervollständigten die Verkleidung. Femke musste grinsen, als sie das Ergebnis im Spiegel betrachtete.
Lady Alyssa war eines ihrer liebsten Alter Egos. Warum Femke die Rolle der attraktiven, aber unausstehlichen jungen Edelfrau so gerne spielte, wusste sie selbst nicht genau. Zum Teil lag es daran, dass Alyssa stets im Luxus lebte, obwohl das nicht der einzige Grund für die Faszination sein konnte, denn Femke hatte schon oft andere reiche Charaktere gespielt und ähnliche Annehmlichkeiten genossen. Vielleicht war es die heimliche Freude, die Wut der anderen über Alyssas totale Eigensucht zu sehen. Es hatte etwas herrlich Bösartiges, wenn sie darauf bestand, dass der Besitzer des Silbernen Kelches, Versande Matthiason, Alyssas Taschen persönlich heraufbrachte, und wenn sie verlangte, dass seine Tochter ihr während ihres Aufenthaltes als persönliche Dienerin zur Verfügung stand.
Der Silberne Kelch war eines der ältesten Gebäude von Shandrim, was ihm einen Charakter verlieh, der den anderen teuren Gasthäusern in der Innenstadt fehlte. Ihr Zimmer war luxuriös eingerichtet, und Femke freute sich darauf, mit bloßen Füßen über den dicken weichen Teppich zu laufen. Alles in diesem Zimmer war geschmackvoll. Die Bilder von Adligen und Pferden passten zu den dunklen Holzmöbeln und den tiefroten und dunkelgrünen Teppichen und Vorhängen. Der Bezug des Bettes war sahnig weiß und mit wunderschönen Blütenmotiven bestickt, die es frisch und einladend wirken ließen. Die Laken waren perfekt gebügelt und präzise über die große Matratze gefaltet worden.
Es war schwer, etwas zu finden, über das sie sich beschweren konnte, aber Femke wusste, dass das für ihre Rolle als Lady Alyssa notwendig war und auch erwartet wurde. So ließ sie Versande eines der Bilder an der Wand abhängen, angeblich weil ihr einer der Gentlemen darauf nicht gefiel, da er sie anzugrinsen schien, wo immer sie hinging. Auch eine Vase mit Blumen bezeichnete sie als vulgär und hieß ihn, sie mitzunehmen. Es war zwar einer der schönsten Sträuße, die sie je gesehen hatte, aber Alyssa war bekannt für ihre Reizbarkeit, und da wollte Femke natürlich niemanden enttäuschen.
Ohne Fragen zu stellen, tat Versande, was sie ihm befahl, denn er wusste, dass Lady Alyssa zwar ein sehr schwieriger Gast war, aber auch sehr großzügig sein konnte. Solange seine Gäste gut zahlten, war er gern bereit, die ärgerlichen Seiten ihres Besuches und ihre Allüren zu übersehen.
Femke entspannte sich in ihrem luxuriösen Zimmer und wartete, bis sie sicher war, dass die anderen Adligen ihre Einladungen zur Krönung erhalten hatten. Mit schalkhafter Bosheit stellte sie den ganzen Nachmittag lang eine willkürliche Forderung nach der anderen. Das ließ sich leicht damit rechtfertigen, dass sie ihre Rolle gut spielen musste, aber es machte ihr auch viel Spaß.
Zuerst verlangte sie ein heißes Bad, das natürlich genau die richtige Temperatur haben musste, die erst mit mehreren Nachgüssen mit heißem, kaltem und dann wieder heißem Wasser zu erreichen war. Danach trocknete sie sich mit weichen Handtüchern ab, die für sie extra vorgewärmt werden mussten. Sie bestellte Dahl und stellte erfreut fest, dass sie ein aromatisches Getränk, serviert mit warmem Kuchen und einer großzügigen Menge Schlagsahne, bekam. Selbst Alyssa konnte daran nur schwer etwas aussetzen, entschied Femke, als der heiße Dahl langsam den leichten Kuchen auf ihrer Zunge auflöste.
Kurz nachdem sie damit fertig war, klopfte es zaghaft an der Tür, und das Dienstmädchen, das ihr den Dahl gebracht hatte, trat ein.
»War es zu Ihrer Zufriedenheit, Mylady?«, fragte sie schüchtern, als sie mit gesenktem Blick das Tablett abräumte.
»Es war angemessen, danke sehr«, entgegnete Femke herablassend. »Sag, Mädchen, habt ihr hier eine Schneiderin? Ich glaube, ich brauche für morgen ein neues Kleid, das muss mir heute Abend jemand machen.«
»Ein Kleid, bis morgen?«, quiekte das Mädchen mit einer Mischung von Ungläubigkeit und Entsetzen in der Stimme. »Ich bin nicht sicher, ob es jemanden gibt, der das kann, Mylady. Aber ich frage Vater. Vielleicht kennt er jemanden.«
»Oh, da bin ich ganz sicher«, erklärte Femke zuversichtlich. »Er scheint mir ziemlich
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