Die Gilde von Shandar: Die Spionin
überreagierten. Wenn jemand da draußen war, dann tat er jedenfalls nichts, um ihre Flucht zu verhindern. Daher musste sie nur aufpassen, dass ihr Beobachter es nicht schaffte, ihr dahin zu folgen, wo sie die Nacht verbringen wollte.
Ein Blick auf die Sterne sagte Femke, dass es wahrscheinlich kurz vor Mitternacht war, das hieß, dass in der Unterstadt wahrscheinlich noch Leute unterwegs waren. Da die meisten berufsmäßigen Verbrecher ihrem Handwerk nachts nachgingen – zumindest taten sie das in Shandrim, und es gab keinen Grund anzunehmen, dass sich das in Mantor anders verhielt -, musste sie vorsichtig sein, wenn sie nicht blindlings in weitere Schwierigkeiten geraten wollte.
Wenn du da draußen bist, wirst du es nicht leicht haben, mir zu folgen, schwor Femke insgeheim ihrem unsichtbaren Verfolger, und mit diesem Gedanken machte sie sich auf den Weg den Hügel hinab in den unteren Stadtteil.
Dabei traf sie alle möglichen Vorsichtsmaßnahmen. Die junge Spionin glitt lautlos von Schatten zu Schatten, bog wahllos ab und vermied es, irgendein Muster erkennen zu lassen, wobei sie jedoch stets versuchte, der Unterstadt näher zu kommen. Häufig blieb sie, tief in den Schatten verborgen, plötzlich stehen und lauschte, manchmal mehrere Minuten lang, ob sie jemanden entdecken konnte, der sie verfolgte. Es schien sich nichts zu rühren. Doch merkwürdigerweise verstärkte sich ihre Anspannung eher, als dass sie von ihr wich. Das Gefühl, beobachtet zu werden, wuchs, bis sie überzeugt war, dass ihr jemand folgte. Es war nervenzerreißend.
Femke versuchte es mit jedem Trick, den sie kannte, den eingebildeten Schatten abzuhängen. Sie änderte die Geschwindigkeit, versteckte sich hinter Ecken, kehrte plötzlich um – aber nichts davon führte zum Erfolg.
Als sie die unteren Straßen der Stadt erreichte, begegneten ihr immer mehr Menschen. Dadurch wurde es noch schwieriger, ihren Verfolger zu erwischen. Wenn sie sich im Schatten hielt, konnten die meisten Menschen nicht sehen, in welchem Zustand sie sich befand, aber sie wusste, dass bestimmt bald jemand das getrocknete Blut in ihrem Gesicht und den wirren Haaren entdecken würde. Das würde unweigerlich zu Fragen führen – Fragen, die Ärger nach sich ziehen konnten.
Auch wenn das Gefühl, verfolgt zu werden, keineswegs nachgelassen hatte, gab es doch noch immer keinerlei Anzeichen dafür. Aber es gab keine Garantie dafür, dass die königliche Garde ihr nicht auf den Fersen war. Mit jedem Schritt wurde die Notwendigkeit, sich zu säubern und so zu verkleiden, dass sie ihre Verfolger in die Irre führen konnte, stärker. Sobald sie erst einmal verkleidet war, würde sie Zeit haben, ihre nächsten Schritte zu überdenken.
Femke hatte in den letzten Tagen in Erfahrung gebracht, dass es innerhalb Mantors eine natürliche Quelle gab, die die Stadt im Falle einer Belagerung mit Wasser versorgte. Unglücklicherweise wusste sie nur, dass sie irgendwo im Nordwesten der Stadt lag, und sie wollte nicht die ganze Nacht danach suchen. Wenn sie Glück hatte, fand sie eine schummrige Taverne, in der sie den Waschraum benutzen konnte, bevor jemand merkte, dass etwas nicht stimmte, oder sie konnte in ein leeres Wohnhaus einbrechen. Unter den gegebenen Umständen war die zweite Alternative sinnvoller, auch wenn sie illegal war, denn so konnte niemand beobachten, wie sie sich verwandelte.
Es war riskant, so früh in der Nacht irgendwo einzubrechen, aber nicht riskanter, als im jetzigen Zustand gesehen zu werden. Sie konnte es sich nicht leisten, ein Haus eine ganze Nacht lang auszukundschaften, daher beschloss sie, das Risiko einzugehen.
Die Häuser hier waren völlig anders als die weitläufige Residenz des Grafen. Es waren einfache Reihenhäuser, die den kleineren Kaufleuten, mittleren Rängen des Militärs oder den besseren Händlern gehörten. Es kam nicht darauf an festzustellen, wem das Haus gehörte, sondern ob jemand zu Hause war. Abgesehen von den offensichtlichen Anzeichen, dem Lichtschimmer durch die geschlossenen Fensterläden oder dem Rauch aus dem Kamin, gab es noch viele andere Hinweise darauf. Die meisten Einwohner hier hatten die Angewohnheit, ihre Stiefel im Hauseingang stehen zu lassen, wenn sie eintraten. Standen keine Stiefel im Eingang, war wahrscheinlich niemand zu Hause.
Außerdem hatte Femke festgestellt, dass viele Leute in Mantor ihre Wäsche auf Leinen hängten, die sie im Garten aufspannten, anstatt sie über Holzgestellen vor dem Feuer trocknen
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