Die Gilden von Morenia 01 - Die Lehrjahre der Glasmalerin
Hände. Ihr Herz pochte, während sie im Geiste Worte zu formulieren versuchte, ein Gebet an den Gott, der sie mit ihrem Bruder wieder vereinen würde, mit dem letzten verbliebenen Mitglied ihrer Familie. Die Worte fielen ihr jedoch schwer. Ihre Hingabe wurde durch die Erinnerungen an Bardo abgeschwächt. Rani hatte ihn wochenlang gesucht, hatte verzweifelt wieder mit ihrem älteren Bruder zusammenkommen wollen, der die rauen Wogen ihrer Kindheit stets geglättet hatte.
Bardo war jedoch mehr als nur ihr Bruder. So sehr Rani auch hoffte und betete, dass er alles in Ordnung bringen würde, konnte sie doch nicht vergessen, dass Bardo der Bruderschaft angehörte. Noch während Rani ihre Gebete an Roat formulierte, schlichen ihre Finger zu dem schwarzen Verband, der Larindolians Wunde zusammenhielt. Vor Jahren hatte Bardo sie geschlagen, weil sie seine Tätowierung gesehen hatte. Was würde er nun tun, wo sie der Bruderschaft selbst die Treue geschworen hatte? Was würde Bardo tun, jetzt wo sie Dalarati getötet hatte? Rani verdrängte ihre Ängste und beschränkte sich auf die vertrauten Gebete der Kindheit, die auswendig gelernten Texte, die ihr in der Vergangenheit stets Frieden gewährt hatten.
»Großer Gott Roat, betrachte mich mit Wohlwollen. Segne mich, großer Gott Roat.« Die Worte klangen hohl, aber sie wiederholte sie immer wieder, fand Trost in der schlichten Vertrautheit des einfachen Satzes.
»Ach, Rani, wie immer meine andächtige Schwester.« Sie erschrak und wirbelte zu der gähnenden Dunkelheit der Kathedrale herum. Die Kerzen in ihrem Rücken verliehen dem gewaltigen Raum eine flackernde Unheimlichkeit, und sie bildete sich ein, dass unmittelbar außerhalb ihres Sichtfeldes zum Angriff bereite Nachtdämonen warteten. Bevor sie jedoch bei diesen Schrecken verweilen konnte, regte sich etwas, und ihr Bruder betrat den zitternden Lichtschein.
»Bardo!«, rief Rani aus und stürzte auf ihn zu. Seine Arme waren stark und fest. »Bardo! Ich habe dich so lange gesucht!«
»Ach, Rani.« Er zauste ihr die Haare und führte sie zu einer der niedrigen Bänke, die neben dem Altar standen. »Wir haben nicht viel Zeit. Die Leute werden misstrauisch, wenn du zu lange vom Palast wegbleibst.«
»Was!« Seine Worte erstaunten sie. Hätte er wütend geklungen, hätte sie es verstanden. Sie war für den explosiven Zorn gewappnet, den er in der Vergangenheit gezeigt hatte, bei Angelegenheiten, die die Bruderschaft betrafen. Dies war jedoch anders. Bardo klang fürsorglich, aber fest. Sie protestierte: »Warum soll ich zum Palast zurückgehen? Warum kann ich nicht mit dir kommen?«
»Mit mir?« Die Überraschung in seiner Stimme war echt und überwog jeglichen Zorn, den Rani zu hören befürchtet hatte. »Du kannst nicht mit mir kommen!«
»Warum nicht? Du bist mein Bruder, die einzige Familie, die ich noch habe.« Sie versuchte, ihre Worte vernünftig klingen zu lassen, noch während ein Schluchzen ihre Kehle zu ersticken drohte.
»Aber genau das ist der Grund dafür, warum du jetzt nicht mit mir kommen kannst.« Bardo sprach in dem geliebten Tonfall, an den sie sich erinnerte. »Du bist mir zu wertvoll, um dich zu den Orten zu bringen, zu denen ich gehen muss. Du musst im Palast bleiben, in der Kathedrale, an Orten, wo du in Sicherheit bist.«
»Aber ich will nicht in Sicherheit sein! Ich will bei dir sein!« Sie barg das Gesicht in seiner Tunika und umklammerte seine Arme.
Er ließ sie einige Minuten weinen, und dann wurde sie sich der Tatsache bewusst, dass seine Finger ihr Haar streichelten, dass seine Stimme leise ihren Namen aussprach, immer wieder. »Rani… Rani…« Die beiden Silben verbanden sich zu reiner Poesie, und sie erkannte, wie lange es her war, seit jemand sie bei ihrem wahren Namen genannt hatte – nicht bei ihrer angenommenen Identität als Unberührbaren-Mädchen, nicht bei ihrer lächerlichen Verkleidung als Lehrling. Sie hörte ihren Namen, von jemandem ausgesprochen, der sie liebte, und sie erkannte, dass sie tun würde, was ihr Bruder verlangte. Sie schniefte laut, bevor sie sich Bardos Umarmung entzog.
»Wohin gehst du, wo es so gefährlich ist?«
»Ich werde immer hier in der Stadt sein. Aber ich habe Feinde… Menschen, die mehr Macht haben, als ihnen zusteht, die die Dinge missbilligen, die ich tun muss, die Dinge, welche die Stadt und das Königreich retten werden.«
»Dinge für die Bruderschaft.« Es war keine Frage.
»Dinge für die Bruderschaft.« Bardo nickte. Er zuckte
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