Die Gilden von Morenia 01 - Die Lehrjahre der Glasmalerin
ausgeteilt wie ein Geizhals. Du bist zu jung, um das zu verstehen, aber er hat ein elendes Leben geführt. Er hat sich von Tag zu Tag vorangekämpft.« Bardo ergriff ihre Hände, und seine Finger bebten unter der Macht seines Glaubens. »Die Kasten zwingen jeden von uns zur Ergebenheit, zwingen jeden von uns, alle unsere möglichen Schicksale bei der Geburt aufzugeben. Wer weiß, was unser Vater hätte werden können, wäre er nicht durch seine Kaste, durch den Rat, gebunden gewesen?«
»Aber ich habe die Kasten gewechselt! Ich wurde ein Lehrling!«
»Ja, aber zu welchem Preis? Unser Vater, unsere Mutter, alle unsere Brüder und Schwestern… Wir haben allen unseren Besitz zusammengelegt, um dich auf die unterste Sprosse der Leiter der Gildeleute zu bringen.« Bardo sprach wie ein Priester, wie ein Mann, der von seinen eigenen leidenschaftlichen Worten vereinnahmt wurde. »Rani, verstehst du nicht? Die Bruderschaft wird die Regeln ändern. Die Bruderschaft wird der ganzen Stadt, ganz Morenia, der ganzen Welt der Tausend Götter Gerechtigkeit bringen.«
»Was werdet ihr tun?« Ranis Stimme klang zerbrechlich.
»Ach, Rani. Ich würde es dir sagen, wenn ich könnte.« Bardo seufzte, und ein Teil der Magie wich von ihm. »Ich würde mein Wissen mit dir teilen. Aber damit brächte ich dich nur in Gefahr und dein Leben aus dem Gleichgewicht. Ich darf die einzige Familie, die mir geblieben ist, nicht riskieren, die einzige Familie, die der Tyrannei unserer Kaste noch entkommen kann. Vertraust du mir, Ranikaleka?«
Ranis Kehle verengte sich bei dem liebevollen Kosenamen, bei dem spielerischen Namen, den er ihr vor Urzeiten gegeben hatte, als sie noch unbeschwert im Heim ihres Vaters gelebt hatten. Sie nickte, konnte nicht sprechen.
»Sehr gut. Du musst zum Palast zurückkehren. Geh zurück und lebe im Kinderzimmer. Ich kann dir nur sagen: Die Feinde der Bruderschaft regen sich. Sie nennen sich die Gefolgschaft des Jair, aber an ihnen ist nichts, was Jair gutheißen würde. Sie wurden durch die Unruhe in unseren eigenen Rängen auf den Plan gerufen. Die Gefolgschaft fürchtet uns. Sie fürchten die Veränderungen, die wir bringen werden. Und sie haben erkannt, dass sie uns schaden können, indem sie das Gleichgewicht stören, indem sie die Macht beeinflussen.«
»Aber wer sind sie, Bardo?«
»Du bist einer von ihnen begegnet, und ich bin erstaunt, dass du so lange bestehen konntest, ohne dass sie dich verraten hat.«
Rani spürte, wie seine Worte in ihrem Kopf an ihren Platz rückten. Wer hatte ihr Leben manipuliert? Wer hatte sie kontrolliert, als sie ihre Zeit auf dem Markplatz abgedient hatte, als Borin sie ohne weitere Verpflichtungen freigelassen hätte, als sie sich dem Heiligtum des Kathedralengeländes genähert hatte? Wer hatte sie, in der Tat, gerade erst heute manipuliert, sie am Rande des Marktplatzes so lange aufgehalten, bis sie beinahe die Ehre versäumt hätte, die Erste Pilgerin zu werden? »Mair.« Sie spie die einzelne Silbe aus, als habe sie ihr die Zunge verbrannt.
»Ja. Es tut mir leid, Rani. Ich weiß, dass du ihr geglaubt hast, den Lügen der Gefolgschaft geglaubt hast. Aber sie ist eine ihrer Anführerinnen, einer ihrer Adjutanten. Und dies ist nicht weniger als ein Krieg.«
Rani wollte protestieren, wollte erklären, dass Bardo sich irre, dass Mair ihre Freundin sei. Noch während sie die Worte dachte, erkannte sie jedoch, dass sie sie nicht aussprechen würde. Mair war ihr vielleicht wie eine Freundin erschienen, aber Bardo war ihr Bruder.
Außerdem, wie konnte sie Mair vertrauen? Das Mädchen war eine Unberührbare, in ein Leben verschlagener Manipulation geboren. Sicher, sie mochte Rani vielleicht manchmal wie eine Freundin erschienen sein, aber mit welchem Ergebnis? Mairs »Freundschaft« hatte immer ihren Preis – ein süßer Kuchen, eine Münze, Ranis kostbarer Silberspiegel.
Ranis Arm pochte unter dem Verband. Mair gehörte zur Gefolgschaft, war eine Feindin. Alles war so verwirrend.
Nichts war jemals so, wie es schien. Die Bruderschaft, die Gefolgschaft… Wer war Rani, dass sie solch komplizierte Dinge verstehen könnte? Sie kannte nur eine Wahrheit. Ihre ganze Familie war fort, alle außer Bardo, der stets ihr Lieblingsbruder gewesen war, der Bruder, dem sie am meisten vertraute. Selbst als Bardo ihr am bedrohlichsten erschienen war, selbst an jenem entsetzlichen Tag, als sie seine Schlangentätowierung gesehen hatte, hatte er seinen Zorn gezügelt. Er hatte seine Wut
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