Die Gilden von Morenia 01 - Die Lehrjahre der Glasmalerin
nicht zusammen, als Rani nach den Bändern seiner Tunika griff und sie löste, so dass sie das Kleidungsstück zu einer Seite ziehen konnte, um die Schlangen zu sehen, die einander über seinen muskulösen Bizeps jagten. Während sie einen Finger zu einem Paar eintätowierten, karmesinroten Augen hob, verinnerlichte sie die Erinnerung daran, wie Bardo sie geschlagen hatte, als sie ihn weitaus weniger vertraut berührt hatte. Nun wiederholte er nur: »Die Bruderschaft.«
»Ich will dir helfen.«
Bardo lachte, schob ihre Finger fort und schloss seine Tunika mit müheloser Anmut wieder. »Du bist zu jung, um helfen zu können.«
»Ich bin nicht zu jung! Ich habe bereits Dinge getan! War ich zu jung, als ich Tuvashanoran rief? War ich zu jung, als du mich hast Dalarati töten lassen?«
Bardos Gesicht spannte sich an, als hörte er jemanden aus weiter Ferne seinen Namen rufen. »Wir wollten nie, dass du solche Dinge tust, Rani. Wir wollten nie, dass du hineingezogen würdest.«
»Aber darum geht es, Bardo. Ich wurde bereits hineingezogen. Dalarati zu t-töten, war das Schwerste, was ich jemals getan habe. Aber als ich herausfand, dass er dich ermorden wollte, als Larindolian sagte, er wollte der Bruderschaft schaden, erkannte ich, dass ich keine andere Wahl hatte!«
»Schsch!« Ranis Stimme war zu einem schrillen Flehen angestiegen, und Bardos Blick zuckte den dunklen Mittelgang der Kathedrale hinab. »Rani, es gibt einige Dinge, die du niemals laut aussprechen darfst.«
»Ich kann Geheimnisse bewahren, Bardo.«
Er schüttelte den Kopf und ergriff mit locker geballter Hand ihr Kinn. »Dies ist nicht nur ein Spiel, das du mit Varna spielst.«
Sie entzog sich ihm und murrte: »Ich spiele nicht mehr mit Varna – sie hat die Wache gerufen, als sie mich sah. Bardo, ich kann ein Geheimnis bewahren. Ich habe niemandem erzählt, dass du Rabes Mutter getötet hast.«
Bardo ergriff ihre Schulter fester, zwang sie, ihn anzusehen. Rani unterdrückte einen Schmerzensschrei. »Was hast du gesagt?« Sie wollte sich seinen schraubstockartigen Fingern entziehen, aber er ließ sie nicht los. »Wessen hast du mich beschuldigt?«
»Ich sagte, ich habe niemals jemandem erzählt, dass du Rabes Mutter getötet hast.« Sie hob trotzig das Kinn an.
»Wer ist Rabe?«
»Er ist ein Unberührbaren-Junge. Ich bin mit seiner Schar zusammen gewesen. Ich weiß alles darüber, Bardo – ich weiß, dass seine Mutter mich bestohlen hat, als ich auf den Laden aufgepasst habe, und ich weiß, dass du sie aufgespürt hast, um die Zinnschnallen zurückzubekommen. Ich erinnere mich an die Schiefertafel, die du mir mitbrachtest.«
»Die Schiefertafel…«
»Und die Blumen und Geschenke für die anderen. Ich habe damals nicht daran gedacht nachzufragen, weil ich nur ein Kind war, aber jetzt… Ich weiß nicht, warum du nicht zum Rat gehen und dort Gerechtigkeit suchen konntest, aber ich habe niemandem erzählt, was ich weiß… Bardo, bitte, du tust mir weh!«
Seine Finger hatten sich zu dem Verband um ihren Oberarm bewegt, umschlossen ihre heilende Wunde mit einer Grausamkeit, die ihr erneut Tränen in die Augen trieb. Nun glättete er den Stoff über ihrem Arm und wandte sie zu sich um. Als er sie ansah, brannten sich seine Augen in ihre, und sie fühlte sich durch die leidenschaftliche Macht seiner Worte benommen.
»Hör mir zu, Rani. Es ist sehr wichtig.« Sie brachte ein zitterndes Nicken zu Stande. »Was ich getan habe, was du über mich gehört hast… all das hatte seinen Grund. All das wurde von Jair und den Tausend Göttern bestimmt.«
»Aber warum…«
»Warum sollten die Götter uns zwingen, in Kasten zu leben? Warum sollten die Götter allen Reichtum Wenigen geben und die meisten ihrer Kinder knausern und sparen und ewig hoffen lassen, genug Silber zu verdienen, um an einem offenen Feuer zu schlafen, und genug Kupfer zu verdienen, um sich einen Topf Porridge kaufen zu können? Warum sollten wir diejenigen sein, die wie Sklaven schuften, während andere es viel leichter haben?«
Rani hatte noch nie zuvor das fanatische Leuchten in Bardos Augen bemerkt. Vielleicht war es nur eine von den Kerzen verursachte Täuschung, aber der Blick ihres Bruders flackerte grün auf. Sie schrak vor seiner Berührung zurück, presste ihr Rückgrat an die Rückseite des Kirchensitzes.
»Rani, unser Vater hat sein ganzes Leben lang gearbeitet, um ein paar Heller zusammenzukratzen. Er hat seinen Besitz wie besessen gehortet und Geld und Verantwortung
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