Die Gilden von Morenia 01 - Die Lehrjahre der Glasmalerin
dunkelsten Nacht am anderen Ende des Kathedralengeländes. Wäre den Eindringlingen das Gelände vertrauter gewesen, hätten sie ihr schwach schimmerndes Laternenlicht nicht gebraucht. Sie hätten vollkommen unbemerkt entkommen können.
Aber die Plünderer hatten wohl nicht erwartet, in das Kathedralengelände eindringen zu müssen. Die Angreifer stahlen den Beweis zurück, der sie mit Tuvashanorans Ermordung in Verbindung brachte. Sie stahlen vielleicht gerade Moradas brutal misshandelten Körper, beseitigten die Schlangentätowierung, welche die Ausbilderin mit dem toten Tuvashanoran in Verbindung bringen würde. Oder – und bei diesem Gedanken erzitterte Rani – sie stahlen vielleicht Tuvashanoran selbst. Welche Risiken würde die Bruderschaft der Gerechtigkeit eingehen, damit die Stadt nicht erführe, dass sowohl Morada als auch der Prinz das Zeichen umeinander gewundener Schlangen trugen?
Rani war sich bewusst, dass sie Hilfe rufen sollte. Sie sollte Salina als eine der verderbten Glasmaler preisgeben, die von den Leuten des Königs gesucht wurden. Sie sollte Menschen, die Macht besaßen, die wahre Gefahr hinter diesem Angriff erkennen lassen.
Aber sie konnte nichts tun.
Niemand war bereit, einem verängstigten Kind mitten im Kathedralenchaos zu helfen. Wenn sie Salina die Maske herunterrisse – sprichwörtlich oder im übertragenen Sinne –, würde sie heikle Fragen darüber beantworten müssen, woher sie die Gildemeisterin kannte. Selbst wenn die alte Frau verraten würde, bestand keine Garantie dafür, dass die entsetzten, unbewaffneten Pilger handeln würden. Rani erkannte, wie lächerlich es klang, eine runzelige, alte Frau für Tuvashanorans Tod verantwortlich machen zu wollen. Fast ebenso lächerlich, dachte sie, wie behaupten zu wollen, dass sie selbst nichts damit zu tun gehabt hatte. Es gab keine Möglichkeit, Gildemeisterin Salina damit in Verbindung zu bringen, ohne sich auch selbst der grausamen Gerechtigkeit auszusetzen.
Gefangen wie ein gehetzter Löwe in König Shanoranvillis Amphitheater, tat Rani das Einzige, was ihr einfiel. Mit einem gemurmelten Gebet an ihren neu gewonnenen Schutzherrn Lan senkte sie den Kopf und rammte ihn unmittelbar in Gildemeisterin Salina. Ihr harter Schädel erwischte die alte Frau direkt unter dem Brustbein. Der Lehrling hatte kaum Zeit, sich an dem ungeheuren Ooommmph entweichender Luft zu weiden, bevor die maskierte Frau rückwärts fiel, auf die Fliesen krachte und einen neuerlichen Schauer vergoldeten Papiers und zerdrückter Binsen auslöste.
Rani nutzte den Vorteil des Chaos und hastete zur Tür des Refektoriums.
Die kalte Nachtluft schlug ihr ins Gesicht, während sie tief einatmete und ihr hämmerndes Herz zu beruhigen versuchte. So sehr es sie auch danach verlangte, sich in den Nebengebäuden der Kathedrale zu verstecken, Schutz in einer der Gebetskapellen zu suchen, die über das Gelände verstreut lagen, erlaubte sie sich jedoch nur, in Farnas Mitternachtsumhang gehüllt zu der Baracke zu schleichen, in der Pater Aldaniosin Morada und den Prinzen zur letzten Ruhe präpariert hatte.
Ein rascher Blick bestätigte den Erfolg der Plünderer. Rani begann erneut zu zittern, als sie die formale Kleidung des Priesters erkannte, als sie das Messer sah, das aus seinem dunkel befleckten Bauch ragte. Hier, am Schauplatz ihrer wahren Mission, hatten die Eindringlinge ihren Stahl nicht versteckt. Die Verwüstung im Refektorium war inszeniert worden, um die Geräusche des Mordens zu überdecken.
Rani trat über die dampfende Lache von Pater Aldaniosins Blut hinweg. Sie fühlte sich auf widerwärtige Art von den blutenden, verschlungenen Überresten der drei Andächtigen angezogen. »Heil sei Tarn, Gott des Todes…«, hörte Rani in der Erinnerung, und sie versuchte, das Kribbeln des Entsetzens in ihrem Nacken fortzureiben.
Sie wandte sich den drei Plattformen zu und fand ihre Vermutung bestätigt.
Tuvashanoran lag noch feierlich aufgebahrt, seine mit Myrrhe getränkten Bandagen waren von plündernden Händen unberührt. Jetzt war der Prinz jedoch von zwei leeren Plattformen flankiert. Moradas verstümmelter Leichnam war nirgendwo zu sehen.
Rani hörte ein Geräusch, das lauter war als ihr mühsamer Atem und heftiger als ihr hämmerndes Herz. Jemand hatte die Pilgerglocke erreicht und schwang das schwere Metall kräftig, sandte Geläut in den düsteren Himmel Shanoranvillis Soldaten wurden zur Rettung gerufen.
Rani handelte erneut impulsiv, entsagte
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