Die Gilden von Morenia 01 - Die Lehrjahre der Glasmalerin
die zu erschreckt waren, um die Plünderer genauer zu betrachten.
Das Refektorium war von schrecklichem Lärm erfüllt. Die Eindringlinge brüllten, als wollten sie Prinz Tuvashanoran aus seinem verfrühten Schlaf erwecken, und mehrere schrille Frauenstimmen erhoben sich in bis ins Mark dringender Trauerklage. Pilger flehten laut darum, von den Verheerern verschont zu werden, einige schrien entsetzt auf, andere befahlen ihre Seelen inbrünstig den Tausend Göttern an, auf dass sie sie bewahren möchten.
Dennoch, trotz all des Tumults, war die schärfste Klinge, die Rani erblicken konnte, das stumpfe Brotmesser, das von einem bleichgesichtigen Hardu drohend geschwungen wurde.
Ranis Erinnerung huschte ungebeten zu ihren Spielen in den Straßen der Stadt – fröhliche Runden Befreit die Prinzessin mit ihrer damaligen Freundin Varna. Rani hatte bei diesen unbekümmerten Spielen häufig Lärm und Kraft demonstriert – genau wie die Plünderer. Sie hatte damit stets einen bestimmten Zweck verfolgt – die der Prinzessin zugeteilte Wache abzulenken.
Aber wo – und was – war es, was die Prinzessin in diesem Tumult repräsentierte?
Rani dachte flüchtig, dass ihr Zedernholzkästchen mit den Händlerbelegen die sinnbildliche Prinzessin sei. Sie hatte gewiss niemals solche Reichtümer an einem Ort versammelt gesehen – alle Händlerzehnten von einem gesamten Jahr. Rani hatte noch nie so viel Verantwortung übertragen bekommen, wie sie jetzt in Form von dünnen Dokumenten aus Goldpapier auf dem Boden des Refektoriums umherwirbelte. In diesem Moment schlidderte eines der Papiere über die Fliesen, und Rani ergriff es instinktiv und entzifferte die beschädigten und beschmutzten Buchstaben – »ein Dutzend Umhänge aus edler Wolle, mit vom Träger zu bestimmenden Emblemen«.
Bevor Rani ihre Gedanken zu Ende führen konnte, entdeckten ein halbes Dutzend Plünderer ihr Versteck und warfen den Tisch mit wütendem Brüllen um. Noch während ihr Schutz auf die Fliesen krachte, hastete Rani über den Boden davon, einen Schauer goldener Schätze auslösend, während sie sich in den trügerischen Schutz von Farnas geborgtem Umhang kauerte. Wer wusste, dass Rani solche Reichtümer zur Kathedrale gebracht hatte? Borin natürlich, und einige seiner Gefährten aus dem Händlerrat. Und Mair. Konnte das Mädchen der Unberührbaren so rasch gehandelt und Mitglieder ihrer kastenlosen Horde versammelt haben, um das Pilgergelände zu überfallen? Rani erschauderte, als sie sich an Mairs anscheinend zufälliges Auftauchen erinnerte, zuerst auf Borins schattiger Marktfeste und dann wieder, als Rani sich dem Kathedralengelände näherte.
Während Rani nach einem neuen Schutz Ausschau hielt, stand sie jäh einem der Plünderer gegenüber. Sie war nur einen Augenblick zur Unbeweglichkeit erstarrt, durch die Schreie der Todesfee, die durch das Refektorium hallten, gebannt. Dann streckten sich raue Hände nach ihr aus, Finger krümmten sich mit mörderischer Anspannung, Handflächen, die von vielen kleinen Narben überzogen waren. Rani kannte solche Hände. Sie hatte gehofft und gebetet, in eine Bruderschaft aufgenommen zu werden, die ihr dieselben Narben einbrächte.
Der Plünderer war ein Glasmaler.
Rani war so bestürzt, dass ihr das unterdrückte Keuchen, das gezischelte »Du!« fast entging.
Noch während Ranis Blick zu dem geschürzten Mund gezogen wurde, bemerkte sie die aufflackernden Augen hinter der schwarzen Maske – Augen, die sie jeden Tag wütend angestarrt hatten, den sie in der Gilde gearbeitet hatte. »Gildemeisterin Salina!«
Rani verfiel, ohne nachzudenken, in ihren gewohnten Hofknicks und unterdrückte die auf sie einstürmenden Fragen, wie die Gildemeisterin den Verliesen des Königs entkommen war, wie sie als freie Frau auf dem Kathedralengelände stehen konnte.
Überrascht und in Farnas zu langen Umhang verwickelt, übersah Rani beinahe den wichtigsten Aspekt der Frau vor ihr. Auf Salinas Maske war ein zartes Flechtwerk aufgenäht, Schwarz auf Schwarz mit acht scharlachroten Nadelstichen – vier sich umeinander windende Schlangen, deren bösartige Zähne über dem Nasenrücken der Gildemeisterin schimmerten.
Als Rani das inzwischen vertraute, magische Zeichen er. kannte, wurde ihr die Bedeutung dieses seltsamen Angriffs jäh klar. Ein Blick zur noch immer geöffneten Tür des Refektoriums bestätigte die Vermutungen des Lehrlings – draußen auf dem Hof bewegten sich Gestalten, Mitternachtsschatten vor der
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