Die Gilden von Morenia 01 - Die Lehrjahre der Glasmalerin
einprägten. Gerade als Rabe blitzartig eine schmutzige Hand danach ausstreckte, zog Rani es vor dem habgierigen Jungen zurück, denn sie konnte mit ihrer letzten Verbindung zu der Welt, die sie einst gekannt hatte, nicht brechen.
Rabe spottete, während Mair stichelte: »Was is’ dein Problem, Rai? Is’ der Preis zu hoch? Verlangen wir zu viel, was du in unsere Familie einbringen sollst? Um als eine von uns zu gelten, egal wer nach dir fragt oder warum?«
Rani schwirrte der Kopf, und sie wünschte, sie hätte nichts von dem Whiskey getrunken. Mairs Worte machten gewiss Sinn. Ranis Eintritt in die unheilvolle Glasmalergilde hatte ihre Eltern weitaus mehr gekostet als einen Silberspiegel. Dennoch waren Ranis Bindungen an ihre Familie, an ihr Erbe, mit der silbernen Scheibe verknüpft. Sie murmelte mühsam: »Ich kann ihn dir nicht geben. Er war ein Geschenk an mich, vom Händlerrat.«
»Vom Rat!«, krähte Mair. »Der Rat, große Rai! Nun, du bist das Mädchen, das von nirgendwo kam. Jetz behaupteste, ein Geschenk von Borin selbst zu haben!«
»Am Tag meiner Geburt war ich eine Händlerin! Der Rat schenkte mir diesen Spiegel, damit ich später meinen eigenen Stand eröffnen könnte!«, antwortete Rani hitzig.
»Und jetzt ham wir Angst!«, rief Mair aus. »Wir zittern alle in unseren Stiefeln.« Wie um den Spott in der Stimme ihrer Anführerin zu unterstreichen, scharten sich die Kinder der Unberührbaren enger um Rani und verrenkten sich beinahe den Hals, um einen Blick auf das silberne Geburtsrecht der Kaste zu erhaschen. Aufgeregtes Murmeln ergriff sogar die Kleinsten. »Und glaub nich’, du könntest nach deinem Messer greifen«, warnte Mair sie. »Wir täten dich aufhalten, bevor du es ziehen könntest.«
So sehr sich Rani auch nach dem einfachen Leben sehnte, das sie für immer hinter sich gelassen hatte, war sie doch nicht vollkommen dumm geworden. Auch wenn sie heftig atmete, wusste sie doch, dass sie gegen diese Schar von Unberührbaren nicht ankämpfen würde. Sie hatte kein Verlangen danach, den letzten Rest ihres Lebens in einer verfallenen Gasse in irgendeinem unbekannten Viertel der Stadt auszuhauchen. Stattdessen schluckte sie die bittere Mischung aus in Hass aufgelöstem Stolz hinunter. Mair und die Unberührbaren hatten während der letzten Wochen des Tumults zu ihr gestanden.
Ohne sich bewusst zu sein, dass sie eine Entscheidung getroffen hatte, streckte Rani den Spiegel aus und drehte ihn herum, so dass die Kinder den erhabenen Löwen sehen konnten. »Ich werde mein Messer nicht gegen euch erheben. Ich habe es ernst gemeint, als ich den Unberührbaren Treue schwor.«
Mair wartete eine lange Minute, wob die Anspannung zu greifbarem Garn. Als das ältere Mädchen den Spiegel annahm, spürte Rani, wie in ihrer Brust ein Band riss, die Verbindung zu ihrer Familie und der Kaste und dem Leben, das sie stets als das ihre betrachtet hatte, selbst als sie bei der Gilde im Exil war.
Rani, die gegen aufsteigende Tränen ankämpfte, tat das Einzige, was ihr einfiel.
Sie hob die rechte Hand an die Lippen und spie in die Handfläche. Als sie das nach Whiskey riechende Mischmasch zu Mair ausstreckte, wirkte die Anführerin der Unberührbaren überrascht, als könnte sie sich nicht daran erinnern, dass sie Rani, vor nicht allzu vielen Nächten, auf dem Marktplatz auf diese Art zum Schweigen verpflichtet hatte. Dann, während die anderen Kinder der Unberührbaren zusahen, spie Mair auch in ihre Handfläche und ergriff fest Ranis Hand. Die beiden Mädchen sahen einander unverwandt an, behielten die Haltung bei, bis sich viele der anderen Kinder unruhig regten.
»Gut, Rani. Willkommen in deinem Leben unter den Unberührbaren.«
Rani ignorierte die sie bei Mairs Worten befallende Erleichterung. Vielleicht hatte sie einen guten Handel abgeschlossen. Sie hakte die Daumen in ihren Gürtel, und es gelang ihr, sich nun stolzer zu halten, als sie sich umwandte, um die baufälligen Quartiere zu mustern. »Hier werden wir vermutlich kein Frühstück finden, oder?« Mair lachte, und die Schar kehrte bald in die sichereren Bezirke von Shanoranvillis Stadt zurück.
Tatsächlich betrat die Kinderschar das Viertel der Adligen. Rani hatte diese Straßen nie erkundet. Sie war nur einmal dorthin gefahren, mit ihrem Vater, als er einer Familie einer hohen Kaste einen gut gearbeiteten Satz Schüsseln brachte. Nun erkannte sie, dass die Häuser der Adligen besser bearbeitet waren als alle anderen, die sie je gesehen hatte.
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