Die Gilden von Morenia 01 - Die Lehrjahre der Glasmalerin
sich, einen Zeh in die Pflastersteine zu bohren, aber er widersprach Mairs impulsivem Handeln nicht. Die Anführerin wartete eine volle Minute, ob Aufruhr entstünde, bevor sie sich an Rai wandte. »Und jetzt du, Rai. Willste mit uns kämpfen anstatt gegen uns? Willste in Shanoranvillis Stadt als eine der Unberührbaren anerkannt werden?«
Rani zögerte nur einen Moment. Sie war stolz auf ihre Herkunft als Händlerin, eingedenk der Ehre ihrer Kaste in einer Stadt, in der alles nach dem Geburtsrecht bemessen wurde.
Dennoch hatte sie dieses Geburtsrecht verkauft, als sie erwählte, Glasmalerin zu werden, für etwas so Unbestimmtes wie das erblühende Feingefühl eines Künstlers. Nun wurden ihr weitaus größere Schätze geboten – Kameradschaft, Nahrung, Verbündete gegen noch unbekannte Feinde. »Ja«, brachte sie mühsam hervor. Rabe schnaubte angewidert, aber Mair starrte ihn durchdringend an.
»Also gut, Rai. Nimm das…« die Anführerin hob Rani den Weinschlauch entgegen, die unter dem unerwarteten Gewicht zurückzuckte, »und beantworte Folgendes: Schwörste, Rai, dich deinen Brüdern und Schwestern unter den Unberührbaren anzuschließen, mit ihnen gegen alle Ungerechtigkeiten zu kämpfen und alles Unrecht inner Stadt wiedergutzumachen?«
Ranis Augen waren groß und ernst geworden, aber sie nickte zustimmend. Auf ein verzerrtes Lächeln von Mair hin, gelang es ihr, mühsam hervorzubringen: »Ich schwöre.«
»Dann trink mit deinen Brüdern und Schwestern und sei eine von uns.« Rani hob den schweren Lederbeutel an ihre Lippen, trank von der Flüssigkeit und erkannte rasch, dass sie stärker als Wein war.
Noch während der berauschende Whiskey Ranis Zunge erschreckte, beugte sich Mair vor und drückte kräftig auf das weiche Leder. Rani spuckte, als sich der Alkohol bis in ihre Lungen hinabbrannte, und das Würgen trieb ihr die Tränen in die Augen. Als sie wieder atmen konnte, sah sie ihre Mentorin anklagend an. »Warum hast du das getan?«
»Wenn du als eine der Unberührbaren leben willst, darfste nichts halbherzig machen. Oder willste verhungern, weil du nich’ alle Kekse aufgegessen hast?« Rani schüttelte den Kopf, noch immer benommen von der brennenden Bestie, die sich ihren Weg bis in ihren Bauch krallte. »Gut. Dann is da nur noch eins, wenn du eine von uns sein willst.« Mair warf einen bedeutungsvollen Blick auf den Beutel an Ranis Taille.
Argwohn verzog Ranis Gesicht. War das schon die ganze Zeit Mairs Plan gewesen – Rani betrunken zu machen und dann ihre karge Habe zu stehlen? Rani legte eine Hand misstrauisch auf ihre wenigen Schätze.
»Genau!«, gackerte Mair. »Du weißt, was wir fragen wollen, bevor wirs tun! Du sollst eine von uns sein, das is sicher!«
»Was willste von mir?« Ranis panische Frage kam vor Angst und durch die zunehmende Wirkung des Whiskeys undeutlich hervor, und ihre vorsichtig geäußerten Worte klangen eher nach Mairs Mundart als nach der gepflegten Sprache eines Händlerkindes.
»‘nen Treueschwur für deine neuen Leute.«
»Was?«
»Nichts, wozu wir dich nich’ schon vor Wochen hätten zwingen können.« Mair sah sie unverwandt an und wartete ab, bis Rani die Forderung erwog. Der Lehrling spürte die Blicke der anderen Kinder wie Würmer über ihre Haut kriechen. Rani griff in ihren Beutel und durchsuchte ihre Schätze, als mache sie eine Bestandsaufnahme, sich vergewissernd, dass die Unberührbaren ihre mageren Reichtümer nicht bereits stibitzt hatten, ohne dass sie es gemerkt hatte.
Das zarithianische Messer, ein Geschenk von ihrem Vater.
Die Stoffpuppe, ein Geschenk von ihrer Mutter.
Der kleine Kreis aus Kobaltglas, bei der Gilde gefunden.
Und der Silberspiegel, ihr Geburtsgeschenk des Händlerrates, mit dem eingeprägten, wilden Löwen, der eine Ziege riss.
Als Rani ihr letztes Besitztum berührte, erkannte sie, dass das kostbare Silber bereits für sie verloren war. Das Metall schrumpfte schon unter ihren Fingern dahin. »So tapfer wie ein Löwe, so flink wie ein Löwe«, murmelte sie, während sie den kunstvoll gearbeiteten Schatz hervornahm. Der Spiegel war die einzige, ihr verbliebene Verbindung zu ihrem Leben als Händlerin. Es war der erste Gegenstand, den sie verkauft hätte, wenn sie ein normales Leben in ihrer Kaste geführt und begonnen hätte, ihren eigenen Händlerstand zu finanzieren.
Das polierte Metall schimmerte matt im Tageslicht, und Rani spürte, wie der jagende Löwe und seine glücklose Beute sich in ihre Handfläche
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