Die Gilden von Morenia 01 - Die Lehrjahre der Glasmalerin
meine Decke über deinen Knien, oder nich’?« Rani hätte sich fast unter dem Wollüberwurf herausgewunden, als Mair seufzte. »Ach, er wird sowieso nich’ mehr lange Trost bei uns suchen. Es is fast an der Zeit, dass er seinen eigenen Weg findet. Er könnt’ genauso gut wie ich ‘ne Handvoll Unberührbare anführen. Oder er könnt’ sich ‘ne richtige Arbeit suchen, die Arbeit von ‘nem Mann in fast jedem adligen Haus.«
»Ich wollte nicht…«
»Ja, Rai, du wolltest nix tun, um das Leben deiner Unberührbaren-Verwandten durcheinanderzubringen.« Mairs Worte klangen so nüchtern – und so ungläubig –, dass Rani keine Antwort einfiel. An die zerbröckelnde Wand gelehnt, hörte sie den gedämpften Atem der schlafenden Kinder um sie herum. Mairs Körper war ihrem nahe, und die Decke lag über ihnen wie warmer Pudding. Rani ließ sich treiben, dachte darüber nach, wie weit sie an diesem Tag gestreift waren und wie viel sie über das Leben in der Stadt gelernt hatte, von der sie gedacht hatte, sie würde sie schon ihr ganzes Leben lang kennen. Ihre Beine waren schwer vor Müdigkeit, und ihre Augenlider sanken herab.
»Rai?« Mairs Stimme klang ebenfalls vor Schläfrigkeit schleppend, und Rani hätte beinahe keinen Laut als Antwort hervorbringen können. »Wie is’ es, in einem von den Häusern zu leben, mit ‘ner Mutter und ‘nem Vater, und mit Brüdern und Schwestern, die immer in der Nähe sind?«
Tränen des Selbstmitleids brannten in Ranis Kehle. »Es ist wie… es ist wie aller Sonnenschein auf der Welt, der durch die Kathedralenfenster strömt.«
»Warum gehste dann nich’ zurück? Du kannst nix so Schlimmes gemacht haben, dass deine eigene Ma dich nich’ zurücknehmen täte.«
»Sie sind fort.« Ranis Stimme brach. »Ich habe – oder die Leute des Königs glauben, ich hätte – etwas so Schreckliches getan, dass sie meine ganze Familie weggebracht haben. Ich denke, sie wollen, dass ich zu den Verliesen komme, um darum zu bitten, dass sie meine Familie freilassen.«
»Wir werden morgen hingehen«, versprach Mair, so leichthin, als stimme sie zu, einen Kuchen von einer Fensterbank zu stehlen. »Wie heißen sie?«
»Jotham Händler und Deela Händlerin.«
Mair pfiff durch die Zahne, und ihr Körper wurde unter der Decke starr. »Also biste die, die sie suchen. Die, die den Prinzen getötet hat.«
Rani erstarrte, als sie sich bewusst wurde, dass ihre nächsten Worte sie retten oder vernichten könnten. »Ich bin diejenige, von der die Soldaten behaupten, ich hätte den Prinz getötet. Ich habe es jedoch nicht getan.«
»Du bist Ranita Glasmalerin. Rani Händlerin.«
»Ich bin Rai.«
Ein langes Schweigen entstand, und Rani beobachtete, wie Mair mit der Entscheidung rang, ob sie die Nachtwache rufen sollte, um einen mordenden Flüchtling zu übergeben. Der Lehrling zwang sich, den Winkel zu berechnen, in dem sie unter der Decke hervorspringen müsste, um die Gasse hinabzufliehen, wenn Mair Alarm schlüge.
»Ich hab schlechte Neuigkeiten für dich.«
»Was?« Rani brachte die Silbe fast nicht hervor.
»Deine Eltern wurden nich’ nur in Shanoranvillis Verliese gebracht. Die Soldaten ham sich ‘n bisschen Spaß erlaubt. Der Hauptmann konnte seine wütenden Männer nach dem Tod des Prinzen nich’ im Zaum halten. Jotham Händler und Deela Händlerin spüren jetzt keine Schmerzen mehr.«
Rani spürte, wie alle Luft aus ihren Lungen gepresst wurde, aber sie zwang benommen Fragen über ihre Lippen. »Und meine Brüder? Meine Schwestern?«
»Dasselbe, heißt es. Sie ruhen jetzt alle in Frieden, Rai.«
»Sogar Bardo?« Rani konnte die zwei Worte in ihrem Unglauben kaum hervorbringen. Selbst als sie auf dem Marktplatz preisgegeben war, hatte sie sich nicht vorgestellt, dass ihre gesamte Familie tot wäre. Ihretwegen zu Unrecht eingekerkert, ja, gefoltert und hungernd – aber hingerichtet!
»Bardo? Dein Bruder is’ Bardo?« Rai hörte zum ersten Mal Angst in Mairs Stimme – Angst, und den scharfen Beiklang der Erkenntnis, als das Unberührbaren-Mädchen ihr bruchstückhaftes Wissen zusammensetzte. »Wenn du Bardo Händlers Schwester bist, Rai, dann is’ das ‘ne ganz andere Geschichte, ‘ne vollkommen andere Geschichte.« Mair zog die Decke von Ranis Knien und kauerte sich tiefer in die Wolle, als verberge sie sich vor einem Albtraum. Rani zitterte in der plötzlichen Mitternachtskälte, zwang die Worte aber durch ihre anschwellende Kehle.
»Dann lebt Bardo noch?«
Mairs Antwort
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