Die Gilden von Morenia 01 - Die Lehrjahre der Glasmalerin
kam widerwillig, und die Finger des Unberührbaren-Mädchens vollführten rasch ein Schutzzeichen. »Ja. Zumindest sagen das die Gerüchte.«
Rani hörte jedoch mehr, Unausgesprochenes. »Erzähl es mir, Mair. Erzähl mir von meinem Bruder.«
8
Mair wandte den Blick uncharakteristischerweise von Rani ab, nahm die Decke hoch und zog sie durch ihre nervösen Finger, als schäle sie Erbsen. Rani wartete mehrere Minuten lang ungeduldig, im Mondlicht blinzelnd, und fragte schließlich mit vor Neugier rauer Stimme: »Was? Was könnte so schrecklich sein, dass du es mir nicht einmal erzählen kannst?«
»Wir sind inner Dunkelheit der Nacht gefangen, Rai, und es gibt Dinge, die besser am Tag gesagt werden, wenn sie überhaupt gesagt werden müssen.«
»O nein, das tust du nicht! Ich werde nicht die ganze Nacht hier sitzen und mir alle möglichen furchtbaren Dinge vorstellen!«
»Was auch immer du dir vorstellst, es is’ nich’ schlimmer als die Wahrheit.«
Diese grimmigen Worte griffen Rani ans Herz, und sie schluckte schwer, ließ ihre Stimme aber bewusst schmeichelnd klingen. »Komm schon, Mair. Es kann doch nicht so schlimm sein. Es kann nicht schlimmer sein als das, was du mir bereits erzählt hast – dass meine ganze Familie… tot ist.« Die Worte klangen nicht real, als sie bat: »Sag mir, was du weißt, und wir werden die Wahrheit herausfinden.«
Mair seufzte schwer. Rani spürte, wie sich der Körper der Anführerin neben ihr entspannte, und sie konnte endlich ihren angehaltenen Atem ausstoßen. »In Ordnung, Rai. Aber dir wird nich’ gefallen, was du hören wirst.«
»An dieser ganzen Sache gefällt mir vieles nicht, aber zumindest weiß ich, dass du mir die Wahrheit sagen wirst.«
»Ja, Rai, zumindest weißte das.« Mair deutete mit dem Kinn auf eine schlafende Gestalt ein gutes Stück die Gasse hinab. »Du hast bestimmt bemerkt, dass Rabe unter den Unberührbaren nich’ der Einfachste is’.«
»Das habe ich bemerkt«, sagte Rani sarkastisch und beugte in ihren hart errungenen Handschuhen unwillkürlich die Finger.
Mair sah die Bewegung und unterdrückte ein grimmiges Lächeln. »Er war nich’ immer bei uns. Nich’ alle Kinder der Unberührbaren streifen in Gruppen herum wie wir.«
»Natürlich«, schnaubte Rani unwillkürlich. Bis dahin war es ihr nicht in den Sinn gekommen, dass sie fast nichts über das Leben der Unberührbaren wusste – außer über Mairs kleine Gruppe von Gefolgsleuten und über die Erwachsenen, die genug Glück gehabt hatten, eine Arbeit als Dienstboten zu finden. Ranis ganzes Leben lang waren die Unberührbaren lediglich das aufregendste zahlloser Wunder gewesen, die über die Stadtviertel verstreut waren. Sie waren die niedrigste der Kasten. Formal gesehen, hatten sie keine Kaste. In Ranis verschlossenem Geist waren diese abgerissenen Menschen genauso wenig Bürger von König Shanoranvillis Reich wie die Schnitzereien an den Häusern der Adligen und die kunstvollen Schilder vor den Händlerläden. Die Unberührbaren waren einfach, und waren, so weit Rani es wusste, auch immer schon gewesen.
Mair war keine Närrin und erkannte Ranis Reaktion als offensichtliches Eingeständnis von Nichtwissen. »Es gibt alte Unberührbaren-Familien, genau wie bei den Händlern und so, ‘ne Mutter und ‘n Vater und ‘n Haufen Kinder.« Die Anführerin umfasste mit einer Handbewegung alle ihre Schützlinge. »Wir sind zusammen, weil wir es erwählt ham, unsere Familien zu verlassen, oder weil sie uns verlassen ham. So oder so.«
Rani war überrascht, aus Mairs Worten unterschwelliges Bedauern herauszuhören, aber sie wollte die Belehrung nicht dadurch unterbrechen, dass sie bei Mairs Geschichte nachbohrte. »Nun zu Rabe«, fuhr Mair fort. »Er kam aus einer dieser Familien. Seine Mutter hat immer intrigiert, immer Ränke geschmiedet. Sie war gut genug, um auf der Gasse Geld zu münzen, das war sie.« Mairs Stimme klang ruhig, respektvoll, und Rani erkannte, dass Mair davon träumte, die beste Diebin und Bettlerin der Unberührbaren in der ganzen Stadt zu sein – genauso wie Rani einst sicher gewesen war, die beste Händlerin, und später die beste Glasmalerin, zu werden. »Eines Tages kam Rabes Ma mit ihrem gefährlichsten Plan an.«
Mairs Flüstern verlor sich in der Nachtluft und Rani musste sich nahe heranbeugen, um die kaum gehauchten Worte zu verstehen. Die Anführerin hatte Rani in Bezug auf die Handschuhe vielleicht den Vorzug gegeben, aber sie hatte eindeutig nicht die
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