Die Gilden von Morenia 01 - Die Lehrjahre der Glasmalerin
nicht gekommen, um Rabe seinen Platz bei dir wegzunehmen.«
»Du glaubst, du könntest uns überhaupt was wegnehmen?« Mair brachte ein hochmütiges Glucksen zustande, während sie den Kopf fester an ihr Beutelkissen lehnte. »So gut biste nicht, Rai. Zumindest noch nich’. Leg dich hin und schlaf etwas. Rabe wird dich morgen früh angehen, um zu sehen, ob du bereit bist, dich von den Handschuhen zu trennen. Du solltest ihn besser durch ‘n guten Nachtschlaf überlisten.«
Rani schüttelte den Kopf, entschlossen, ihrer Familie nicht noch mehr Schande zu bereiten, als Bardo es bereits getan hatte. »Ich kann nicht…«
»Du kannst mich nich’ erfrieren lassen, Kohlkopf. Leg dich hin, oder lass meine Decke los, aber lass nich’ die Nachtluft rein!«
»Gut, Mair. Aber ich verspreche dir Folgendes: Ich werde die Bruderschaft suchen, und wenn ich sie finde, werde ich die Wahrheit über das herausfinden, was mit Rabes Mutter passiert ist. Ich werde das Wergeld der Bruderschaft für sie einfordern, den Preis, den Rabe für seinen Verlust verdient.«
»In Ordnung, Rai. Du wirst das Wergeld kriegen, und wir werden alle Kuchen essen. Aber jetzt schlaf, damit du dich morgen behaupten kannst.«
Rani seufzte, legte die Decke wieder um ihre Schultern und gab nur ungern zu, wie tröstlich sie die Wärme und das Vertrauen fand, welche die Anführerin der Unberührbaren ausstrahlte.
Wie sich herausstellte, bekam Rani keine Gelegenheit, Wiedergutmachung an Rabe zu leisten, nicht einmal durch die leere Geste, ihm die indigoblauen Handschuhe zu überlassen.
Sie schlief am folgenden Morgen fest, nachdem sie sich ihren Weg durch einen grausamen und verwirrenden Wald von Albträumen gebahnt hatte. Schließlich hatte sie die düsteren Bilder von sich geschoben. Was blieb, in dem grauen Kokon der letzten Stunde vor der Dämmerung, war ein warmer Platz unter Mairs Decke und der langsame, stetige Atem von Ranis neu gewonnener Freundin.
Daher konnte man es ihr kaum zum Vorwurf machen, dass sie nicht wach werden konnte. Das Stampfen von Soldatenstiefeln war inzwischen vertraut, ein immer wiederkehrendes Hintergrundgeräusch für ihre wachen Gedanken. Dieses Mal wurde sie sich des militärischen Takts erst bewusst, als ihr ganzer Körper von der Wahrnehmung pochte. Die vollständige Erkenntnis kam erst, als Mair ruckartig die Decke zurückschlug und Rani der bitteren Morgenkälte aussetzte.
»W-was?«, keuchte der erschreckte Lehrling, aber Mair eilte bereits davon, marschierte die Gasse hinab und stieß einen in Leder gehüllten Zeh in die Seiten einiger noch schlafender Kinder. Rani folgte ihr und bemerkte eifersüchtig, dass Rabe bereits auf war und sich Mair dabei anschloss, die Truppe mit rauer Freundlichkeit wachzurütteln. Ein Kind rieb sich mit einer schmutzigen Hand über die Augen und schien weinen zu wollen, aber ein strenger Ruf von Rabe brachte sie zum Schweigen.
»Komm mit«, schmeichelte Mair, während sie dem letzten erwachenden Kind, einem Gassenkind, das nicht älter als vier Jahre zu sein schien, ein Stück Brot hinhielt. »Heute is nicht der richtige Tag zu zögern, Kleines.«
»Was für ein Tag ist denn heute?«, fragte Rani, während sie sich zu der kleinen, häuslichen Szene stahl. Der Stolz verbot ihr zuzugeben, dass das Stück Brot in der schmutzigen Hand des Kindes appetitlich aussah. Das war ein Aspekt am Umherstreifen in den Straßen der Stadt – sie hatte das Gefühl, als könnte sie sich nie wieder satt essen.
»Vertreibungstag«, antwortete Rabe, während er das Gesicht aufgrund ihres Unwissens zu einer Grimasse verzog.
Rani merkte, wie sich ihr vor Entsetzen der Magen umdrehte. Sie hatte die Vertreibung früher aus der Sicherheit des Ladens ihrer Eltern beobachtet. Soldaten trieben die Unberührbaren-Horden aus ihren parasitischen Stätten und säuberten und sicherten die vier Stadtviertel wieder für Jairs bevorzugte Kasten. Noch während Rani ihre Panik hinunterzuschlucken versuchte, wandte Mair ihre Aufmerksamkeit den ängstlichen Gesichtern zu, die zu ihr aufsahen. »In Ordnung, Leute. Seid ihr bereit? Pell, wo treffen wir uns draußen?«
Ein kleiner Junge, der durch stumpfes Haar spähte, das ihm bis auf die Schultern reichte, grinste die Anführerin mit Zahnlücken an. »Wir treffen uns vor dem Händlertor.«
»Gut«, sagte Mair nickend, streckte gebieterisch eine Hand aus und zauste dem Kind die schmutzigen Haare. »Und wann sammeln wir uns da? Trace?«
Ein an ein Fohlen erinnerndes
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