Die Gilden von Morenia 01 - Die Lehrjahre der Glasmalerin
gleich hier vor Mair. Sicher wusste sie, dass sich Kinder um ihre alternden Eltern kümmern mussten, wenn sie erwachsen waren. Sie hatte erwartet, Verantwortung für ihre Mutter und ihren Vater übernehmen zu müssen, wenn sie zu alt wurden, um ihren Laden noch zu führen. Sie hatte sich sogar kleine Rachespiele ausgedacht – dass sie entscheiden würde, wann ihre Eltern eine Kupfermünze für Leckereien ausgeben oder wann sie sich vor ihrer Arbeit drücken konnten, wenn Rani ihren Händlerstand mit der Unterstützung ihrer Eltern führte.
Es war ihr jedoch niemals in den Sinn gekommen, dass sie ihren Vater ernähren müsste, der verdummt wäre. Sie hatte sich niemals vorgestellt, dass eines ihrer Elternteile in einer Stadt allein und hilflos wäre, die den armen und gebrochenen Mitgliedern einer Kaste wenig Trost bot. Das nagende Schuldgefühl darüber, dass Bardo jemandem solchen Schaden zugefügt haben könnte, ließ Rani sich unter Mairs dünner Decke erneut unbehaglich regen.
»Es muss alle möglichen Leute geben, die alle möglichen Tätowierungen tragen«, brachte sie schließlich hervor. Das Bild von Prinz Tuvashanorans starkem Arm kam ihr plötzlich wieder in den Sinn, die Schlangen um seine erstarrten, vom Tode verhärteten Muskeln verschlungen. Sie dachte auch an Ausbilderin Morada, und als sie sprach, war sie sich nicht bewusst, dass sie Bardos Tätowierung gestand. »Fast jeder könnte das Zeichen der Schlange tragen, nicht nur mein Bruder.«
Mair starrte sie mit durchdringendem Blick an. »Die, die das Zeichen tragen, behalten das für sich, Rai. Wir wissen nich’ viel über sie. Wir wissen, dass sie ihr Zeichen auf den Straßen der Stadt nich’ zeigen. Wir Unberührbaren finden sie nie in unseren Durchgängen, und andere Kasten täten nie zulassen, dass sie sich in den feineren Vierteln der Stadt niederlassen, zumindest nich’ offiziell. Wir Unberührbaren wollen mit nichts anfangen, wovon sich die anderen Kasten klar fernhalten, nich’ wenn wir uns bereits mit Soldaten rumschlagen müssen, die uns aus der Stadt jagen wollen. Das is’ es, was uns der Bruderschaft gegenüber so argwöhnisch macht.«
»Die Bruderschaft«, wiederholte Rani, und sie erinnerte sich an Larindolians Hohn gegenüber Morada. Die Bruderschaft der Gerechtigkeit.
»Ja, sie nennen sich die Bruderschaft der Gerechtigkeit, aber wir kennen sie unter ‘nem anderen Namen. Wir nennen sie die Bruderschaft der Schlange.«
Rani hörte den Namen, und ein Meer der Verzweiflung tat sich unter ihr auf. Sie hätte leugnen können, dass Bardo sie geschlagen hatte. Sie hätte leugnen können, dass Bardo etwas mit Rabes tragischer Geschichte zu tun hatte. Aber Rani konnte keinesfalls die Tätowierung ignorieren, die sie am muskulösen Arm ihres Bruders gesehen hatte. Bardo hatte sich nicht nur Rani gegenüber als »Bruder« erwiesen.
»Aber wer sind sie?« Rani wollte mehr erfahren. »Was macht die Bruderschaft?«
»Wir können nich’ sicher sein, aber wir hören Gerüchte. Es heißt, sie wollen die Kasten abschaffen. Es heißt, sie wollen ein Leben in der Stadt, in dem alle Menschen wie gleichwertige Brüder vor den Tausend Göttern stehen.«
»Und du glaubst ihnen nicht?«, fragte Rani, bevor sie den Gedanken auch nur verarbeiten konnte, bevor sie sich vorstellen konnte, wie es wäre, ohne den Trost und die Beständigkeit des Wissens um seinen Platz im Leben in der Stadt zu existieren. Bevor Mair antwortete, erinnerte sich Rani, wie Ausbilderin Morada Larindolian in der Hütte mit der Frage bedrängt hatte, ob er seinem Glauben an Gleichheit abgeschworen hätte.
»Wir Unberührbaren glauben nich’, dass jemand mit ‘ner Kaste sagt, er gibt sie auf. Du siehst nich’ wirklich, wie uns die Leute in Scharen zuströmen, oder?«
Rani begriff die Frage als Anschuldigung. Aber wer würde schon unberührbar sein wollen, ohne Kaste sein wollen? Mair war natürlich als Unberührbare geboren. Sie hatte keine andere Wahl. Und Rabe auch – Rabe, der so viel an die Bruderschaft verloren hatte, an Bardo.
Rani erkannte, dass sie kein Recht hatte, mit Mair unter der Decke zu kauern. Ranis Familie hatte Rabes Welt vernichtet. Sie konnte den Diebstahl wohl kaum fortführen, indem sie dem Jungen seinen Platz in der einzigen Familie streitig machte, die ihm geblieben war. Sie schlug seufzend die Decke zurück.
»Wohin gehst du?«, fragte Mair schläfrig und biss gegen die plötzliche Kälte die Zähne zusammen.
»Ich gehe fort, Mair. Ich bin
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