Die Gilden von Morenia 01 - Die Lehrjahre der Glasmalerin
kein ›Es‹, sondern ‘ne ›Sie‹. Nun, jetzt ‘ne ›Sie‹, im letzten Jahr war es ‘n ›Er‹.«
Rani bekundete Interesse, während sie die Habe ihrer Freundin einsammelte. »Hör zu, ich brauche dich wirklich. Bitte, überbring meine Nachricht – ich habe niemanden sonst, dem ich vertrauen kann.«
»Wer biste wirklich, Rai? Du bist eindeutig keine von uns Unberührbaren.«
»Ich war Lehrling in der Glasmalergilde.« Rani drückte Shar ihre Habe in die Arme und kniete sich neben das Strohlager, um die Sandalen des Mädchens hervorzukramen. Eine Woge der Benommenheit überschwemmte sie, und sie musste einige Male keuchend einatmen, um wieder klar sehen zu können.
Das Unberührbaren-Mädchen pfiff leise durch ihre Zahnlücke. »Gut, dann erzähl es mir nich. Warum sollteste irgendwas erzählen?« Shar schlüpfte, trotz ihres Grolls, in ihre Schuhe und schmollte, während Rani die Schnallen schloss. »Aber das is’ ein dummer Scherz, den du da erzählst, Rai. Ich weiß, dass du Spaß machst, aber die Soldaten, die wären da nich’ so sicher. Du tätst nich’ wollen, dass einer von ihnen beschließt, Rache für den Tod des Prinzen zu nehmen, nur weil du mir nich’ sagen wolltest, warum du mich wegschickst. Du musst auf dich aufpassen, Mädchen.«
»Du musst auch auf dich aufpassen«, konterte Rani, während sie Shar zum Eingang drängte. »Geh zur Core und finde Mair. Sag ihr, dass ich morgen bei Bardo sein werde, und dass ich mein Versprechen nicht vergessen habe. Ich bringe das, was ich ihr schulde, morgen früh auf den Marktplatz.« Deutlicher konnte Rani ihre Nachricht nicht formulieren. Sie würde Larindolians Forderung erfüllen, Bardo finden und das Wergeld abholen, das sie Mair versprochen hatte, die Bezahlung für Rabes arme Mutter.
»Und was is’ dabei für mich drin?«, fragte Shar, die schließlich wach genug war, um die Worte zu verstehen, mit denen Rani sie überschüttete. »Ich werde den größten Teil des Tages brauchen, um die Core zu finden.«
»Du wirst verblüfft sein, Shar. Ich kann dir nur versprechen, dass du verblüfft sein wirst.« Rani hörte den weiteren Fragen des Mädchens nicht mehr zu. Sie verriegelte Dalaratis Tür ohne weiteres Zögern. Während Rani ein Gebet an Sart, den Gott der Zeit richtete, dass Shars Mission wirklich den ganzen Tag dauern möge, legte sie ihre Falle aus.
»Komm heraus, kleiner Vogel! Komm heraus und sieh, welche Schätze ich dir gebracht habe.« Dalaratis Stimme schmeichelte, während sich Rani unter Shars Decke kauerte. Ihr Arm hatte unter Larindolians Verband zu schmerzen begonnen, aber sie fürchtete, den Knoten zu lockern, aus Angst, dass der Schnitt wieder bluten würde. In ihrem Schädel pochte es beständig. »Was ist nun, kleiner Vogel? Du sagtest, du würdest auf mich warten, wenn ich die Nachtwache beendet hätte.«
Rani erkannte den Klang der im Türrahmen scharrenden Tür und dann das Einrasten des Schlosses, als Dalarati sie einsperrte. Sie brachte ein leises Stöhnen zu Stande, einen Laut, von dem sie glaubte, dass Shar im kalten Licht der neuen Dämmerung so auf ihren Geliebten reagieren würde. Sie drehte sich in dem im Schatten stehenden Bett um, so dass sie Dalaratis Gestalt ausmachen konnte, während er im Raum umherging.
»Es war eine geschäftige Nacht auf den Mauern«, berichtete der Soldat, während er das Feuer schürte. »Die Stadt ist ruhelos, als vermuteten die Menschen in der Nacht Böses. So ist es schon, seit der Prinz ermordet wurde. Fänden wir nur diesen verfluchten Gl…« Er brach gerade rechtzeitig ab, bevor er die verbotene Gilde benennen konnte. »Diesen verfluchten Lehrling, dann würden wir alle besser schlafen.« Rani schluckte schwer. Dalaratis Worte bestätigten, dass er für sie eine Gefahr darstellte – eine Gefahr für Bardo, und für das einzige Leben, das ihr hier in der Stadt geblieben war.
Der Soldat klatschte in die Hände, um den Staub der Holzscheite zu beseitigen. »Ach! Verflucht seien sie alle dafür, dass sie die Soldaten von ihren warmen Betten fernhalten. Tarn nehme ihre Seelen und verriegele die Tore zu den Himmlischen Gefilden!« Die Worte kribbelten auf Ranis Schädel, da sie der Losung der Bruderschaft so ähnlich waren. Wenn Rani noch Zweifel in ihrem Herzen genährt hätte, so wusste sie nun, dass Dalarati einer von ihnen sein musste. Er musste seine Brüder für Reichtum und Macht unter den Leuten des Königs verraten haben.
Bevor sie eine Erwiderung ersinnen konnte,
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