Die Gilden von Morenia 01 - Die Lehrjahre der Glasmalerin
sein. Sie hatte alles so genau geplant.
»Ich bin dazu ausgebildet, so etwas zu erkennen«, erinnerte Dalarati sie sanft. »Shar hatte schon an jenem ersten Morgen vermutet, dass etwas nicht stimmt. Sie erzählte mir, dass dein Akzent niemals wirklich der der Unberührbaren wäre.«
»Warum hat sie mich dann nicht zur Rede gestellt?«
»Wer ist Shar, dass sie die Tausend Götter in Frage stellen sollte? Gewiss haben sie dich hier in das Viertel geführt, wie sie auch sonst alles kontrollieren. Obwohl die Frage, warum sie ausgerechnet Garadolo als Werkzeug benutzen sollten, sogar Priester jahrzehntelang beschäftigen könnte.« Dalarati zuckte die Achseln und zwang ein Lächeln auf seine hübschen Lippen. Tränen der Enttäuschung stiegen in Ranis Augen – sie konnte diesem Mann nichts antun, diesem Soldaten, der ihre Lügen durchschaut hatte, sie aber dennoch beschützte, dennoch versuchte, sie vor der schlimmsten Verderbtheit Garadolos zu bewahren.
Dalarati hob eine gebräunte Hand, um ihr eine gelöste Haarsträhne aus dem Gesicht zu streichen. »Komm schon, Rai. Genug der Spiele. Ich werde dir ein wenig Geld geben und dich auf den Weg bringen. Du solltest dem Soldatenviertel eine Weile fernbleiben, den Männern die Chance geben, die Dinge zu vergessen, die aus ihren Quartieren verschwunden sind.«
»Warum tut Ihr das?« Ranis Stimme zitterte, und sie sah ungläubig zu, als Dalarati den Raum durchschritt, sich dann bückte und ein Bodenbrett anhob. Sie konnte den festen Umriss einer Kassette ausmachen, und der Soldat stöhnte, als er deren Gewicht in die Mitte des Raumes hievte. »Warum helft Ihr mir, wenn Ihr doch wisst, dass ich andere bestohlen habe?«
»Ach, Rai.« Dalarati grinste unbekümmert, während er sich zwischen sie und die Kassette schob, seine Handgriffe zum Öffnen der Kassette verdeckte. »Wir verraten unsere Brüder alle irgendwann.«
Wir verraten unsere Brüder.
Diese Worte brachten Rani die volle Bedeutung ihres Schwurs gegenüber der Bruderschaft wieder zur Besinnung, des Schwurs, den sie auf ihr eigenes Blut geleistet hatte. Dalarati hatte Bardo gefährdet. Er hatte seinen Bruder, Tuvashanoran, ermordet, ohne daran zu denken, was dieser Verrat nach sich zog, ohne sich Gedanken um all das zu machen, was sie erlitten hatte. Er hatte Rani ihre Familie, ihre Kaste und ihre Sicherheit gekostet.
Sie riss ruckartig ihre zarithianische Klinge unter Shars Kissen hervor. Fairn, der Gott der Vögel, musste sie durch den kleinen Raum getragen haben, und Zake, der Gott der Chirurgen, führte ihre Hand, als sie das Messer in Dalaratis Kreuz versenkte. Alles geschah so mühelos, so leicht, als wäre sie nicht nur ein dreizehnjähriges Mädchen und er nicht der Stolz von Shanoranvillis Männern.
Der Soldat stieß einen gedämpften Überraschungsschrei aus und sank zu Boden, verzweifelt nach der Klinge greifend, die Rani ein Mal umdrehte, bevor sie auf die andere Seite des Raumes zurückwich. »Ach! Rai!« Alle Farbe wich aus seinem Gesicht, und er biss die Zähne zusammen, als er von einem grausamen Krampf geschüttelt wurde. »Was hast du getan?«
»Ihr habt Tuvashanoran ermordet!« Rais Stimme zitterte, als sie das Ergebnis ihres Werkes sah. »Ihr habt auf dem Gerüst gestanden und den Pfeil abgeschossen, der den Prinzen getötet, die Gilde vernichtet und mein Elternhaus zerstört hat.« Tränen strömten ihr Gesicht herab, und sie rang nach Luft.
»Du bist verrückt, Rai.« Schließlich gelang es Dalarati, die Klinge herauszuziehen, aber daraufhin ergoss sich nur ein Strom karmesinroten Blutes auf die Bodenbretter. Er keuchte: »Beim Ersten Gott Ait, du bist verrückt.«
»Ich bin nicht verrückt! Larindolian hat es mir erzählt! Ihr sagtet eben, dass Ihr die Bruderschaft verraten würdet!«
»Die Bruderschaft«, keuchte er. »Was weißt du von ihnen?«
»Ich weiß, dass Ihr Garadolo gefolgt seid. Ich weiß, dass Ihr versucht habt, die Bruderschaft aufzudecken. Ich weiß, dass Ihr Bardo und alles, wofür er eintritt, zu Fall bringen wollt. Darum habt Ihr den Prinzen ermordet.«
»Du kleine Närrin.« Dalarati hatte es aufgegeben, seine Beine bewegen und sich erheben zu wollen. Er atmete in kurzen, scharfen Zügen. »Sie haben dir einen Haufen Lügen verkauft.«
»Ich höre Euch nicht zu!« Rani presste die Augen zusammen, als könnte sie ihre schreckliche Tat so ausschließen, als würde das den Schwur ungeschehen machen, den sie im Raum der Bruderschaft auf ihr eigenes Blut geleistet
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