Die Gilden von Morenia 01 - Die Lehrjahre der Glasmalerin
hatte. »Ihr seid derjenige, der Geschichten erfindet! Beim Ersten Gott Ait, und bei Jair dem Pilger, ich werde Euren Lügen nicht zuhören.«
Stille. Dalarati versuchte nicht mehr, sich zu bewegen, versuchte nicht mehr zu sprechen, aber sie wusste, dass er noch lebte. Sein mühsames Atmen zerriss den kleinen Raum. Sie kämpfte gegen ihre Tränen an, während sie im Geiste die Litanei des Todes aufsagte. Der Tod ihrer Eltern, der Tod Tuvashanorans. Dalarati war ein Verräter. Sie hatte keine andere Wahl gehabt. Sie hätte nicht anders handeln können.
»Rai«, flüsterte er schließlich, und sie zuckte zusammen, als wäre seine Stimme ein Donnerschlag. »Ich weiß nicht, was sie mit dir vorhaben. Ich weiß nur, dass sie dich benutzt haben – dich dazu benutzt haben, die Bedrohung zu beseitigen, die ich darstellte. Bardo richtet großen Schaden an…«
»Sprecht nicht über Bardo!«, schluchzte sie. »Sein Name ist zu gut für Euch!«
»Gut, Rai«, keuchte er. »Dann nicht Bardo. Die übrige Bruderschaft. Ich war kurz davor, alles über ihr Spiel zu erfahren. Ich habe meinem Prinzen alles berichtet, was ich erfuhr. Ich sagte ihm, dass die Bedrohung in unmittelbarer Nähe der Krone liegt, näher, als wir jemals befürchteten. Traue ihnen nicht, Rai. Sie haben schon zuvor gemordet, und sie werden wieder morden.« Die lange Rede erschöpfte ihn, und er sank keuchend auf den Boden zurück.
Rani konnte die Schweißperlen auf seiner Stirn sehen, seine Anstrengung riechen. Sie wollte auf die Straßen der Stadt hinauslaufen, aber sie war von dem Grauen gefangen, das sie verursacht hatte. Die Lache Karmesinrot kroch über die Bodenbretter und trocknete dann langsam in der kalten Morgenluft.
»Hal…« murmelte Dalarati, aber dann öffneten sich seine Augen jäh, als wäre er wachgerüttelt worden. »Shar!« Rani schaute in der Erwartung über ihre Schulter, das Mädchen im Eingang auftauchen zu sehen. »Shar! Verlass mich nicht! Ich friere so…« Er zitterte nun heftiger, und seine Hand verkrampfte sich, als er sie nach Rani ausstreckte. »Meine Liebe«, flüsterte er.
Rani ergriff seine rechte Hand und drückte sie an ihre Brust. Ihre Tränen vermischten sich mit Schweiß und Blut, welche die Haut des Kriegers zeichneten. Dalarati starb in ihren Armen, während sie sich bemühte, nicht auf seine Finger zu sehen, nicht das vollkommene Fehlen von Schwielen eines Bogenschützen an seinen muskulösen Händen zu sehen.
Zutiefst elend und voller Angst wagte Rani es nicht, nach der Tätowierung der sich umeinander windenden Schlangen zu sehen, die Larindolian versprochen hatte.
11
»So tapfer wie ein Löwe, so flink wie ein Löwe«, murmelte Rani vor sich hin, während sie sich vor die Statue des Verteidigers des Glaubens am Rande des Marktplatzes der Stadt kniete. Larindolian hatte sie als Pilgerin ausgestattet, bevor er sie streng zum Marktplatz beorderte. Die Mittagssonne brannte auf ihren schwarzen Umhang, eine fast perfekte Verkleidung. Die Straßen waren mit Pilgern gefüllt, mit Tausenden von Andächtigen, die sich zum heiligsten der heiligen Tage, zum Festtag des Jair, in der Stadt versammelt hatten.
Die Hitze von Ranis Tausendspitzigem Stern brannte sich durch den schweren Stoff ihres Umhangs. In den Schatten bei dem verborgenen Durchgang in den Stadtmauern war die Luft vom feuchten Herbst schwer gewesen, aber hier auf dem freien Marktplatz fühlte sich Rani, als befände sie sich wieder im Brennofen der Glasmaler.
Sie sehnte sich nach dem Gefühl ihres Silberspiegels unter ihren Fingern, nach der vertrauten Gestalt des Löwen, der die Ziege riss. Während all dieser Jahre, in denen sie den Schatz bewahrt hatte, hatte sie sich vorgestellt, selbst der Löwe zu sein, stark und zäh und tapfer. Nun fürchtete sie, tatsächlich die Ziege zu sein.
Während Rani sich zwang, geduldig auf den Boten zu warten, den Larindolian versprochen hatte, beugte sie den Kopf über ihre fest verschränkten Hände und rezitierte die heilige Litanei für Dalarati, als läge der auskühlende Körper des Soldaten noch immer zu ihren Füßen: »Heil, Cot, Gott der Soldaten, Führer Jairs des Pilgers. Betrachte diese Pilgerin mit Gnade in deinem Herzen und Gerechtigkeit in deiner Seele. Führe die Füße dieser Pilgerin auf rechtschaffene Wege der Lobpreisung, damit alles zu deinen Ehren und der Ehre deinesgleichen unter den Tausend Göttern geschehen möge. Diese Pilgerin bittet um die Gnade deines Segens, Cot, Gott der
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