Die Gilden von Morenia 01 - Die Lehrjahre der Glasmalerin
gestohlen hatte.
»Ich habe nicht gelogen, Mair. Hier ist, was ich dir versprochen habe, warum ich Shar geschickt habe, dich zu suchen.«
Das Goldpapier glitzerte im Sonnenlicht, und Mair betrachtete es neugierig, bevor sie es tief in den Falten ihres eigenen Gewandes versenkte. »Ein Dutzend Gewänder«, zitierte das Unberührbaren-Mädchen. »Ein Dutzend Gewänder für ‘n Soldatenleben. Glaubste, da biste ‘nen guten Handel eingegangen, Rai?«
»Das glaube ich nicht«, protestierte sie, aber Mair winkte ab.
»Ich trag noch was zu dem Handel bei. Shar hat mich bei der Core gefunden, obwohl ich nur vermuten kann, woher du wusstest, dass ich dort sein würde. Die Core hat deine Nachricht gehört und hat mir gesagt, ich soll dir ihre Nachricht überbringen, wenn wir uns sähen. Die Core sagt: ›Die Hirschkuh läuft schneller als der Hirsch, und sie hat sich nicht mit einem Geweih im Dickicht verfangen.‹«
»Was bedeutet das?« Rani starrte Mair an, als wäre das andere Mädchen verrückt geworden.
»Woher soll ich das wissen? Ich befolge nur Befehle, wenn ich sie krieg.«
»Die Hirschkuh…« Bevor Rani die rätselhafte Nachricht wiederholen konnte, begann auf der anderen Seite des Marktplatzes ein Aufruhr. Als sie sich fast den Hals verrenkte, konnte sie die Pilgerprozession ausmachen, auf die sie nach Larindolians Geheiß warten sollte. Sie kam fast zu spät. »Mair, danke, dass du hergekommen bist. Du musst mir glauben – ich wollte Dalarati niemals töten. Ich wollte Shar niemals verletzen.«
Bevor die Anführerin der Unberührbaren etwas erwidern konnte, stürzte eine kindliche Gestalt aus den Schatten am Rande des Marktplatzes heran. »Mair!«
»Rabe, ich hab dir gesagt, du solltest bei den anderen auf mich warten!«
»Mair, Jairs Wächter sind hier! Die Prozession kommt zum Markt! Sie wählen den Ersten Pilger. Die Schar fürchtet, wir verpassen…«
Plötzlich betrachtete Rabe die kleine Pilgerin, mit der Mair gesprochen hatte, und blitzartig breitete sich das Erkennen auf seinem Gesicht aus. »Du!«, keuchte er, während Mair rief: »Rabe, ich binde dich an deine Schwüre gegenüber den Unberührbaren!«
»Aber Mair, sie…«
»Ich will nix von dir hören, Rabe.«
»Du hast Shar gehört. Du hast die Core gehört.«
»Ja, und solange ich die Anführerin unserer Schar bin, Rabe, werde ich noch mehr als das hören.«
Der Junge starrte Mair an und konnte eindeutig nicht glauben, dass sich seine Anführerin mit einer umherziehenden, die Kasten wechselnden Mörderin zusammentat. »Das werde ich nich’ zulassen, Mair. Auf dem Weg werden wir dir nich’ folgen.«
Mairs Stimme klang eiskalt, als sie sich mit ihrem Adjutanten maß. »Tu, was du für richtig hältst, Rabe. Denk nur dran, dass du nich’ die ganze Geschichte kennst. Niemand von uns kennt die ganze Geschichte, die hier geschrieben wird.«
»Niemand außer ihr.« Rabe zeigte nicht die gleiche Zurückhaltung wie Mair, und Rani empfand seinen warmen Speichel wie einen Schlag ins Gesicht. Sie zischte und sprang auf, die Finger gekrümmt, während sie sich auf sein höhnisches Gesicht stürzte.
»Hör auf, Rai!« Mairs Befehl durchschnitt Ranis Zorn wie der schärfste zarithianische Dolch. »Lass ihn. Er kennt deine Geschichte nich’, und du kannst dir jetzt nich’ die Zeit nehmen, sie ihm zu erzählen.«
»Aber…«
»Ich hab gesagt, du sollst aufhören.« Mairs Befehl duldete keinen Widerspruch, und Rani ballte die Hände zu Fäusten, während Rabe triumphierte.
Inzwischen war der Aufruhr von der anderen Seite des Marktplatzes vorgerückt. Selbst Rabe wurde durch das Schauspiel, das sich über den Platz wand, zum Schweigen gebracht. Ein Dutzend Gestalten, Jairs Wächter, standen auf Schlüsselpositionen des Marktplatzes. Sie alle trugen strenges Schwarz, mit einer spitzen Kapuze, die jegliche menschlichen Züge verhüllte. Die Wächter waren die heiligsten Repräsentanten Jairs in der Stadt, durch Tage des Fastens und des Gebetes geläutert. Ihre Anwesenheit war bezeichnend für die Macht dieses heiligen Tages, die Macht Jairs im Leben aller Menschen.
Hunderte von Pilgern, ebenfalls in Schwarz gekleidet, woben sich unter den verborgenen Blicken der Wächter zwischen den Ständen hindurch. Alle trugen einen goldenen Tausendspitzigen Stern. Händler riefen der Prozession in frommem Eifer etwas zu, und mehr als ein Pilger bediente sich mit frischen Früchten und reifem Käse, die ehrerbietig angeboten wurden. Die Verkäufer, die
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