Die Gilden von Morenia 02 - Die Gesellenjahre der Glasmalerin
wieder ein und beobachtete, wie ihm seine Ratsherren folgten. Einige der Männer blieben vorsichtig und reagierten eindeutig gereizt wegen der plötzlichen unterstützenden Grundströmung, die Hal angeregt hatte. Dennoch verlief die restliche Ratssitzung reibungslos. Hal erklärte, dass er sich mit einem Schreiber zusammensetzen und noch heute Nachmittag einen Boten entsenden würde. Nach einem kurzen Bittgebet an all die Tausend Götter schickte Hal seine adligen Gefolgsleute fort.
Vielleicht hätte er das Ratszimmer als Erster verlassen und die Gänge mit der Macht und dem Ansehen beschreiten sollen, die seinem Vater eigen gewesen waren, die seinem älteren Bruder eigen gewesen waren. Aber Hal konnte sich nicht überwinden, den Weg in seine Gemächer zurück anzutreten, nicht sofort, nicht solange der erste Sieg im Rat noch durch seine Adern pulsierte.
Stattdessen schickte er seine Ratsherren fort und blieb zurück, saß auf seinem Stuhl am Kopfende des Tisches wie jemand, der ein Festessen erwartet. Er streckte gerade eine Hand zu seiner Stirn aus, um das schwere goldene Stirnband abzunehmen, als er erkannte, dass er nicht allein im Raum war. Der älteste der Ratsherren, Lamantarino, war noch auf dem Weg zur Tür.
Hal fluchte leise vor Verlegenheit, weil er beinahe wie ein verantwortungsloser Schuljunge ertappt worden wäre. Als hätte er den schwachen Laut gehört, wandte sich der uralte Mann schnaufend und mit einem Seufzen zu Halaravilli um. »Ihr habt Eure Aufgabe heute gut erfüllt, Euer Hoheit.«
Hals augenblickliche Reaktion war Freude. Er hatte seine Aufgabe tatsächlich gut erfüllt, und das ohne jegliche offenkundige Unterstützung von irgendjemandem am Tisch. Nachdem Hal sein erstes Hochgefühl des Stolzes hinuntergeschluckt hatte, fühlte er sich durch das Lob des alten Höflings jedoch beunruhigt. Es war wohl kaum schicklich, wenn der König von Morenia Komplimente von jemandem annahm, der lediglich ein Freiherr war. Gleichgültig wie alt dieser Freiherr war. Gleichgültig ein wie enger Freund des Vaters des Königs dieser Freiherr gewesen war.
»Ich danke Euch, Euer Gnaden. Ich wurde von den Tausend Göttern angeleitet.«
»Ach.« Der alte Ratsherr schlurfte zum Tisch zurück, stützte seine papiernen Hände auf das dunkle Holz und hielt einen Moment inne, um zu Atem zu kommen. »Ihr wurdet von Euren Gedanken angeleitet, und von Eurem Verstand. Gewährt den Göttern ihren Anteil, aber vergesst nicht, auch für Euren eigenen einzustehen.« Hal musste fast grinsen. Er war stolz auf seine Leistung und nicht geneigt, den ganzen Verdienst abzutreten. »Seid jedoch achtsam, Euer Hoheit. Ihr dürft keinen Hauch von Schwäche zeigen.«
»Schwäche! Haltet Ihr mich für schwach?«
»Ich denke, Ihr seid jung.« Wie um seine Feststellung zu betonen, hielt Lamantarino inne und rang mit einem jähen Keuchen, das seine Brust rasseln ließ, nach Atem. Als er wieder sprechen konnte, klang seine Stimme höher, dünner. »Ich denke, Ihr seid jung und nicht daran gewöhnt, Euch gegen einen Raum voller Gegner zu wehren.«
»Ich hatte gute Lehrer.«
»Ihr hattet Lehrer, die für einen jungen Prinzen genügten. Es war Tuvashanoran, der an diesem Tisch sitzen sollte.«
Hal konnte seinen älteren Bruder einen Augenblick sehen, wie er an jenem Tag stark und stolz in der Kathedrale stand, an dem er als Verteidiger des Glaubens vortreten sollte. Der alte König war noch nicht bereit gewesen, seine Krone weiterzugeben, aber er hatte Tuvashanoran bereitwillig Verantwortung übertragen wollen, dem ältesten Sohn, der vom ganzen Volk geliebt wurde. Der Gedanke an Tuvashanoran, der Gedanke an den schwarz befiederten Pfeil, der einen stolzen, fähigen Mann vernichtet hatte, schnürte Hals Kehle zu. Er brachte nur ein »Ja« hervor.
Lamantarino nickte, oder vielleicht war sein Kopf nur vom Alter zittrig. »Ihr entstammt demselben Blut, König Halaravilli. Ihr könnt mit der gleichen Macht herrschen.« Der alte Mann wollte wieder zur Tür schlurfen, wandte sich dann aber noch einmal zu Hal um. »Euer Vater hat stets eine Regel befolgt, wenn er mit seinen Beratern umging.«
»Was war das?« Hal konnte nicht zugeben, dass er mit seinem Vater kaum über den Rat gesprochen hatte. Bis zu Tuvashanorans unglücklichem Tod hatte Hal mit seinem Vater über nichts gesprochen, was die Regentschaft und das Königtum anging.
»Lasst sie denken, sie wären der edle Hirsch, aber behandelt sie wie die hetzenden Jagdhunde.« Der alte
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